Individualisierte Massenprodukte muss kein Widerspruch sein

Fortbildungsveranstaltung am Leistungszentrum Mass Personalization

Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Nikola Kaloyanov

 

Individualisierte Massenprodukte muss kein Widerspruch sein

Im Leistungszentrum »Mass Personalization« erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen mit Partnern aus der Industrie, wie maßgeschneiderte Produkte für den Massenmarkt hergestellt werden können. Nun geht die zweite Förderphase zu Ende. Zeit für eine Zwischenbilanz und einen Ausblick.

Veröffentlicht am 23.9.2021

Lesezeit ca. 8 Minuten

Das Konzept der »Mass Personalization« läuft auf eine Umstellung von Prozessen hinaus im Sinne eines ganzheitlichen Nutzungsverständnisses. Der Fokus liegt darauf, die individuellen Bedürfnisse und Bedarfe von Kunden und Nutzern bereits bei der Produktentstehung zu berücksichtigen. Ziel ist es, einen nahtlosen Übergang zu schaffen, der zu neuartigen personalisierten Produkten und Dienstleistungen führt – mit deutlichem Mehrwert für Kunden und Nutzer. So sollen personalisierte Produkte in Zukunft auch für den Massenmarkt rentabel und konkurrenzfähig werden und ihre Vorteile diejenige herkömmlicher Massenware sogar übersteigen.

Das Leistungszentrum Mass Personalization (LZMP) in Stuttgart konzentriert sich in seiner Forschungs-und Entwicklungsarbeit auf die Bedarfsfelder Gesundheit – mit Fokus die Pharmaproduktion, Medizintechnik und Biomedical Systems – und Lebensräume – mit Schwerpunkten bei der Innenraumgestaltung und der Gestaltung mobiler Räume. Darüber hinaus befassen sich die beteiligten Forscherinnen und Forscher damit, wie die Neuausrichtung der Prozesse umgesetzt werden kann und wie die Nutzerinnen und Nutzer in die Produktentstehung einbezogen werden können. Außerdem beschäftigen sie sich mit Potenzialanalysen der Mass Personalization, mit der Adaption bekannter und neuer Technologien sowie der Qualitätssicherung. So sollen gleichzeitig wichtige Impulse für Wirtschaft und Wissenschaft gesetzt werden.

Dabei helfen nun auch die Ergebnisse aus 14 bisher geförderten Projekten. Diese sind äußerst vielfältig und spiegeln durch ihre Übertragbarkeit auf die Herausforderungen unterschiedlicher Branchen das Potenzial des Leistungszentrums vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) in Baden-Württemberg wider.

3D-Drucker können jetzt Hydrogele verarbeiten

So forschte das LZMP im Bereich Gesundheit unter anderem an sogenannten Hydrogelen, also an Gelen aus wasserunlöslichem Polymer. Sie sind in der Pharmazie und Biomedizin weit verbreitet – weiche Kontaktlinsen oder plastische Implantate bestehen beispielsweise aus Hydrogelen –, konnten bislang jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt von 3D-Druckern verarbeitet werden. Auf Basis der interdisziplinären Entwicklung im Rahmen des LZMP konnte ein Material- und Methodenbaukasten entwickelt werden, der eine schnelle Adaption an unterschiedliche Anwendungen ermöglicht.

Die ebenfalls erreichte Skalierung der Batchgröße um das Vierfache stellt für Firmenpartner aus dem 3D-Druck eine vielversprechende Möglichkeit zur schnellen Umsetzung im eigenen Fertigungsprozess dar. Diese Erkenntnisse sollen die Adaption für weitere 3D-Drucker vereinfachen sowie die Erzeugung von diversen komplexen Gelatin-Methacryloyl-Strukturen ermöglichen, die als personalisierte pharmazeutische Darreichungsformen personalisierte Patches für die Haut, Testsysteme und Implantate Anwendung finden können.

Personalisierte Prüfung von medizinischen Korsetten

Außerdem ist der im Bereich Medizintechnik entwickelte Ansatz zur virtuellen personalisierten Prüfung von Korsetten neu und soll weiter im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprojekten mit KMU verbessert und um die orthopädische Wirbelkorrekturanalyse medizinischer Korsetts erweitert werden. Zielgruppe sind Hersteller von Orthesen, für die neben Produktinnovationen auch spezielle Weiterbildungsformate für die Herstellung personalisierter und qualitätsgeprüfter Produkte angeboten werden.

Mit den Ergebnissen der »Next Generation Quality Control« zur Herstellung personalisierter Pharma-Produkte sollen Sprunginnovationen bei Zell- und Gentherapeutika ermöglicht werden, die eine neue Generation an Qualitätskontrollen erfordern. Insbesondere im Bereich der zuverlässigen und zeitkritischen Sterilitätskontrollen besteht hierfür ein enormer Bedarf bei Herstellern von Pharmazeutika und Reagenzien.

Flugtaxi mit anpassungsfähigem Passagierraum

Im Bedarfsfeld Lebensräume beschäftigte sich das LZMP mit der Ausgestaltung von Innenräumen in Gebäuden oder Fahrzeugen. Diese sollen zukünftig aktiv durch Licht, Farbe und personalisierte Klima-Komfortfunktionen auf die individuellen Bedürfnisse des Nutzers eingehen. So sorgte das LZMP-Team etwa mit der Gestaltung des Passagierraums eines Flugtaxis für Aufsehen, der durch Anpassung von Form, Materialität und erlebnisunterstützenden Einflüssen auf die emotionalen Bedürfnisse der Fluggäste reagiert.

Mit dem Ansatz »Air Time − responsive air mobility concept« belegten die beteiligten Forscherinnen und Forscher den ersten Platz im Wettbewerbs des Fraunhofer-internen Netzwerks »Wissenschaft, Kunst und Design«. Durch die Arbeiten in der Pilotphase und der nun abgeschlossenen zweiten Förderphase des LZMP können die entsprechenden Vorarbeiten auch KMU zugänglich gemacht werden, die später beispielsweise als Zulieferer entsprechende Technologien bereitstellen und Vorreiter in diesem Markt sein können.

Fenster öffnet sich selbsttätig, wenn’s zu stickig wird

Im Forschungsvorhaben »Personalization of indoor thermal environments« (POINTE) entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein datengestütztes Verfahren, das mittels Machine Learning die individuellen Klimakomfortpräferenzen von Fahrzeugnutzern erkennt. Anhand von Datenpunkten aus der Nutzerinteraktion werden typische Präferenzprofile ermittelt. Auf diese Weise kann je nach Nutzertyp die Klimaautomatik von Flottenfahrzeugen nach Komfort und Energiebedarf programmiert werden.

Die ebenfalls in diesem Rahmen entwickelte intelligente akustische Fenstersteuerung veranlasst das Fenster eines Wohn- oder Arbeitsraums entsprechend der Lärmentwicklung außerhalb des Gebäudes, aber auch in Abhängigkeit von Akustik und CO2-Belastung im Innenraum sich automatisch zu öffnen und zu schließen. Der Nutzer hat weiterhin die Möglichkeit, dem System Feedback zu geben. Aus diesem Feedback lernt der Algorithmus die individuellen Bedürfnisse und Gewohnheiten des Nutzers kennen und reagiert so mit der Zeit immer stärker angepasst und personalisiert auf den Nutzer und dessen Verhalten im Alltag.

Akustische Fenstersteuerung
Beispiel für den Forschungsbereich Lebensräume: Eine intelligente Steuerung reagiert auf Lärm und schließt die Fenster automatisch.

Interaktiver Begleiter soll vor Isolation schützen

Mit der Entwicklung von »Josy«, einem interaktiven Begleiter als soziales Device, konnte das Stuttgarter LZMP-Team in Zeiten des Lockdowns und der Vereinsamung aufgrund der Covid-19-Pandemie einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung von Lebensräumen leisten und Josy bis zur Prototyp-Reife entwickeln.

Werkzeugkasten hilft Personalisierungspotenziale zu erkennen und zu bewerten

Neben den Forschungen in den Bedarfsfeldern Gesundheit und Lebensräume hat sich das LZMP mit der Frage befasst, wie Personalisierungspotenziale unabhängig von Branche und Produkt methodisch identifiziert und für Unternehmen als Innovationsimpuls nutzbar gemacht werden können. Um hierzu schnelle Antworten geben zu können, haben die Forscherinnen und Forscher einen entsprechenden Werkzeugkasten entwickelt. Zentrales Element in diesem Werkzeugkasten ist das »Personalization Potentials Canvas«, ein Tool, das komplexe Zusammenhänge übersichtlich ordnet und mittels gezielter Fragestellungen die zentralen Gestaltungsdimensionen von Personalisierungslösungen abdeckt. Ergänzt wird das Werkzeug durch das »Personalisierungshypothesen-Canvas« zur Ableitung von Handlungsoptionen und das »Personalization Role Canvas«, um zu oder auch schon vor Beginn der inhaltlichen Arbeit eine entsprechende Selbstreflektion und Standortbestimmung im Unternehmen anzuleiten.

Virtueller Begleiter Josy
Eine Fraunhofer-Mitarbeiterin interagiert mit »Josy«, einem virtuellen Begleiter, der gegen soziale Isolation helfen soll.

Personalisierung kann sowohl negative als auch positive Auswirkungen auf die ökologische Nachhaltigkeit von Produkten haben. Mit dem ganzheitlichen methodischen Ansatz des »Sustainable Personalized Product Development« unterstützt das LZMP Unternehmen in unterschiedlichen Branchen bei der Gestaltung von nachhaltigen personalisierten Produktentstehungsprozessen. Dabei werden Nutzerzentrierung und Nachhaltigkeitsaspekte entlang des gesamten Produktlebenszyklus zusammengeführt und neu gedacht.

Stuttgart Partnership Initiative »Mass Personalization«

Im Rahmen der Mass-Personalization-Partnerschaft der Universität Stuttgart nahm Anfang Januar 2021 auch eine neue Initiative zum Thema Mass Personalization ihre Arbeit auf. Die Initiative fokussiert sich auf exzellente Grundlagenforschung zu Fabrikations- und Biomaterialtechnologien für personalisierte Biomedizinische Systeme:

  • interdisziplinäre Forschung zwischen Produktionstechnologie, biomedizinischer Technik und Materialwissenschaften,
  • Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Gesellschaft über das LZMP und
  • exzellente, fakultätsübergreifende Lehre im Bereich Mass Personalization.

Ziel ist es, den Forschungsschwerpunkt Mass Personalization (MP) an der Universität Stuttgart vor allem im Bereich Biomedizinischer Systeme auszubauen. Neben der Koordination der strategischen Entwicklung an der Universität Stuttgart vertritt die Initiative die Universität in der Organisation des LZMP in Zusammenarbeit mit dem Rektorat, stärkt die Vernetzung der Universität und führt zu einer besseren Auslastung der Ressourcen an den einzelnen Instituten für den Forschungsschwerpunkt MP, um weitere Projekte und Partnerschaften für die angestrebte dritte Phase (Verstetigung ab 2022) vorzubereiten.

Folgende Fakultäten der Universität Stuttgart sind Akteure der Stuttgart Partnership Initiative:

  • Fakultät 2 – Bau- und Umweltwissenschaften
  • Fakultät 4 – Energie-, Verfahrens- und Biotechnik
  • Fakultät 5 – Informatik, Elektrotechnik und Informationstechnik
  • Fakultät 7 – Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik

Dieses Spektrum der Akteure zeigt auch die große Bandbreite der Mass Personalization für die Produktion der Zukunft auf.

Institute, die am LZMP beteiligt sind

Fraunhofer-Gesellschaft

  • Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO
  • Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP
  • Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB
  • Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA

Universität Stuttgart

  • Institut für Akustik und Bauphysik (IABP)
  • Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT)
  • Institut für Elektrische Energiewandlung (IEW)
  • Institut für Grenzflächenverfahrenstechnik und Plasmatechnologie (IGVP)
  • Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF)
  • Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW)
  • Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme (IBBS)
  • Institut für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme (IMSB)
  • Institut für Strahlwerkzeuge (IFSW)

Weiterbildung für Fach- und Führungskräfte

Des Weiteren beschäftigt sich das LZMP mit der Frage, welche Chancen die Personalisierung bietet und wie sich branchen- und unternehmensspezifische Potenziale ermitteln lassen. Mit seinem Weiterbildungsprogramm will das LZMP neue Impulse setzen und Unternehmen in der Implementierung neuer Ansätze unterstützen. Die Angebote führen in das breite Spektrum der Personalisierung ein. In interaktiven (Online-)Fortbildungen werden Methoden vorgestellt, mit denen sich Nutzerbedürfnisse, Produktanforderungen und Personalisierungspotenziale ermitteln und bewerten lassen. Die wissenschaftliche Anbindung stellt zudem sicher, dass die Fortbildungsinhalte grundsätzlich den Stand der aktuellen Forschung im LZMP aufgreifen und einen innovativen wie praxisorientierten Ansatz verfolgen.

Besonderes Kennzeichen der Fortbildungen ist eine teilnehmerorientierte und kurzweilige Umsetzung, die – wie auch die inhaltlichen Aspekte – auf besonders positive Resonanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer stößt. Bisher konnte das LZMP mehr als 120 Weiterbildungsaktive aus 21 unterschiedlichen Branchen begrüßen, was die übergreifende Relevanz des Themas und den interdisziplinären Ansatz des LZMP widerspiegelt. Die Weiterbildungsinhalte und -formate werden entsprechend der Themenvielfalt im LZMP und anhand der Bedarfe von KMU und anderen Unternehmen fortlaufend erweitert.

Screenshot von einem Online-Workshop des Leistungszentrums Mass Personalization
Interaktive Online-Fortbildungsveranstaltungen über »Unternehmerische Chancen der Personalisierung«.

Das LZMP: Innovationsbeschleuniger für Stuttgart und Baden-Württemberg

Nach dem Abschluss der zweiten Förderphase Ende Mai 2021 folgt aktuell eine kurze Transferphase bis Ende 2021. Im darauffolgenden Jahr wird es mit einer bereits jetzt gesicherten jährlichen Grundfinanzierung für den Aufbau der Geschäftsstelle der Fraunhofer-Gesellschaft bis 2025 weitergehen. Das Leitungsteam hat zudem einen kontinuierlichen und partizipativen Strategieprozess angestoßen, mit dem Leistungsangebote und Geschäftsmodelle sowie die inhaltliche Themenentwicklung weiter vorangetrieben werden sollen. Ergebnisse werden jährlich über eine Transfer-Roadmap kommuniziert und evaluiert.

Ziel ist es, das LZMP dauerhaft als Innovationsbeschleuniger für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort des Landes Baden-Württemberg zu etablieren und in nationale und internationale Märkte auszustrahlen. Die Pilotphase und die zweite Förderphase haben gezeigt, dass das LZMP dabei auf einem guten Weg ist: Die Zahl der Industriepartner ist von anfangs 22 auf nun 69 gestiegen und der erwartete Ertrag aus Industrieprojekten erneut deutlich übertroffen worden.

Ihre Ansprechpartnerin

MBA Michaela Reibetanz

Mitarbeiterin der Gruppe Unternehmens- und Produktionsstrategie
Telefon: +49 711 970-1777