Frugal umdenken

Vorstellung des aufgabenbasierten Bediensystems zur Befähigung und Unterstützung von unerfahrenem oder ungelerntem Personal an einer Produktionsmaschine

Vorstellung des aufgabenbasierten Bediensystems zur Befähigung und Unterstützung von unerfahrenem oder ungelerntem Personal an einer Produktionsmaschine (Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Uwe Schleinkofer)

Frugal umdenken

Viele Maschinen sind funktional überladen und damit unnötig komplex für Nutzerinnen und Nutzer, teuer und wartungsintensiv. Das Gegenmodell nennt sich frugale Innovation. Was bedeutet das? Und wann ist das sinnvoll? Antworten liefert Uwe Schleinkofer, Leiter des Zentrums für Frugale Produkte und Produktionssysteme (ZFP) am Fraunhofer IPA.

Veröffentlicht am 11.05.2023

Lesezeit ca. 7 Minuten

Herr Schleinkofer, was bedeutet eigentlich frugale Innovation?

Uwe Schleinkofer: Der Begriff »frugal« impliziert eine Fokussierung und ein entsprechendes Mindset hinsichtlich einfacher, robuster und kostenbewusster Lösungen. Innerhalb der Wertschöpfungskette und dem Produktlebenszyklus existieren viele Stellhebel für eine derartige Fokussierung.

Frugale Innovation ist kein neues Konzept. Warum ist es gerade heute wieder interessant?

Schleinkofer: Die zunehmende Nachfrage nach kundenspezifischen Lösungen, der wirtschaftliche Aufstieg von Schwellenländern und der verschärfte Preiswettbewerb durch meist nicht-europäische Marktteilnehmer stellen deutsche – vor allem mittelständische – Unternehmen vor neue Herausforderungen. Um einerseits ihre Wettbewerbsposition zu festigen und parallel neue, insbesondere preissensitive Kunden zu adressieren, müssen Unternehmen umdenken. Ein Weg ist, erschwingliche und an lokale Anforderungen angepasste Lösungen zu entwickeln, sogenannte frugale Innovationen.

Ist frugale Innovation auch ein Modell für gesättigte Märkte?

Schleinkofer: Im Zuge der zunehmenden Hybridisierung der Kunden mit auf den jeweiligen Einzelfall optimierten Nachfrageverhalten, muss man künftig die Bedürfnisse der Zielgruppen noch genauer kennen – und diese in ein passendes Preis-Leistungs-Verhältnis setzen. Letzteres entspricht einer Personalisierung von Produkten und Maschinen in Industrieländern und deren Lokalisierung in Entwicklungs- und Schwellenländern. Zwar zeichnen sich frugale Innovationen vor allem durch einen starken Absatzfokus auf Entwicklungs- und Schwellenländer aus. Allerdings ist auch in Industrieländern das Potenzial für frugale Innovationen vorhanden, besonders im Mid- und Low-End-Segment. Durch ein zielgruppenoptimiertes Preis-Leistungs-Verhältnis können preissensitive und bisher unerschlossene Kundengruppen adressiert werden.

Kann das Konzept der frugalen Innovation auch Impulse für ökologische und soziale Aspekte bringen?

Zur Person

Uwe Schleinkofer ist seit 2018 Leiter des ZFP am Fraunhofer IPA. Er hat an der Universität Stuttgart zur frugalen Innovation promoviert, an der Hochschule Reutlingen seinen Master in Maschinenbau gemacht und war drei Jahre Entwicklungsingenieur bei der Georg Fischer AG in Schaffhausen.

Portrait Uwe Schleinkofer

Schleinkofer: Die Nachhaltigkeit und somit der bewusste und reduzierte Einsatz von Ressourcen spielt bei frugalen Innovationen eine bedeutende Rolle. So steht zum Beispiel frugal in einem engen Zusammenhang zur Kreislaufwirtschaft und beispielsweise zu Leichtbaustrategien.

Frugale Produkte müssen zwar kostengünstig sein, grenzen sich aber durch ihre hohe Qualität von Low-Cost-Lösungen ab. Frugale Produkte sind in der Nutzung oft mit schwierigeren Bedingungen konfrontiert, beispielsweise in Form klimatischer Extreme, mangelnder Infrastruktur oder mangelndem Anwenderwissen. Folglich müssen während des Entwicklungsprozesses lokale Anforderungen sowie Zuverlässigkeits- und Robustheitsmethoden explizit berücksichtigt werden. Nur dann lassen sich qualitativ hochwertige und dennoch kostengünstige Lösungen für spezielle Kunden und Märkte entwickeln.

Qualität sowie Lebensdauer technischer Systeme werden zunehmend durch technische Überalterung begrenzt als durch Verschleiß. Aus diesem Grund sollten bei der frugalen Maschinen- und Anlagenplanung absehbare technische Weiterentwicklungen berücksichtigt werden. So lassen sich bestehende Anlagen weiter nutzen oder neu konfigurieren, was die Produktlebenszyklen verlängert und die Ausmusterung eigentlich intakter Produkte reduziert. Letztlich sollten nicht nur die Anschaffungskosten, sondern auch die »Total Cost of Ownership« ein relevantes Kaufkriterium sein. Gerade hier bieten sich deutschen Herstellern gute Differenzierungsmöglichkeiten.

Eine produktive, energieeffiziente Nutzung in Verbindung mit einer hohen Lebensdauer und guter Reparierbarkeit sind gute Argumente, sich mit frugalen Produkten gegen Low-Cost-Anbieter durchzusetzen.

Welches Mindset braucht frugale Innovation? Wo setzt man an?

Schleinkofer: Frugale Innovation muss als Strategie implementiert werden, also die Unterstützung der jeweiligen Geschäftsführung haben. Zudem setzt sie die ganzheitliche Betrachtung von Produkten und Prozessen voraus. Frugale Innovationen erfordern ein Change-Management, also auch die Entwicklung eines entsprechenden Mindsets, das allen Mitarbeitenden erlaubt, die Frugalität als wichtig und erstrebenswert anzusehen. Frugale Innovationen implizieren eine »Less is More«-Betrachtung und erfordern damit insbesondere von deutschen Unternehmen, die sich oft im High-End-Bereich positionieren, den kompletten Entstehungsprozess von Produkten neu zu denken.

Bewertung der Frugalität
Quelle: Fraunhofer IPA

Ein speziell aufgestelltes Kernteam, etwa eine strategische Geschäftseinheit, sollte die konkreten Potenziale frugaler Innovationen für das Unternehmen erarbeiten und so eine bewusste Entscheidung dafür oder dagegen herbeiführen. Dieses Team widmet sich auch der Bedarfsermittlung, der Entwicklung und dem Vertrieb von einfachen, robusten und kostengünstigen Produkten. Der Mut umzudenken und eine längerfristige Ergebnisorientierung sind entscheidend, ein derartiges Projekt erfolgreich durch die verschiedenen Phasen zu führen. Besonders wichtig ist das durchgängige Commitment des Managements.

Wie spiegelt sich frugale Innovation im Produkt- und Industriedesign wider?

Schleinkofer: Es geht auch hier um Einfachheit und um Schlichtheit. Jürgen Schmid vom Designbüro DesignTech hat vor ein paar Jahren die Gestaltung des ersten iPhones als frugal bezeichnet: klare Kanten, ein paar Radien und nur eine zentrale Taste unten in der Mitte.

Benutzerfreundlichkeit und intuitive Bedienbarkeit sind ein zentrales Element frugaler Produkte. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels, der demografischen Entwicklung oder eines niedrigen Bildungsniveaus in Schwellenländern ist die Einfachheit ein wesentlicher Aspekt. Denn das gewährleistet die effektive und effiziente Produktnutzung eher als der permanente inkrementelle Ausbau der Leistungsfähigkeit eines Produktes.

Wäre die frugale Innovation auch ein Modell für die Software- oder Service-Entwicklung?

Schleinkofer: Ja, das Prinzip lässt sich übertragen. In der Praxis sehen wir die Herausforderungen bei der intuitiven Bedienbarkeit von Maschinen und Anlagen. Besonders der vermehrte Einsatz von unerfahrenem oder ungelerntem Personal ist ein Thema. Für den effektiven und fehlerfreien Maschinenbetrieb bedarf es ein Human-Machine-Interface, das sowohl an die Maschinenfunktionalität, die Interaktionsprinzipien und die Bedienenden perfekt angepasst ist. Somit wird die Realisierung einer benutzerfreundlichen, effektiven und effizienten Nutzung zum zentralen Entwicklungsthema zukunftsfähiger Software-Systeme.

Das Zentrum für Frugale Produkte und Produktionssysteme (ZFP) in Stuttgart ist ein industrienaher Forschungs- und Entwicklungsstützpunkt für frugale Innovationen in Baden-Württemberg. Die Forschungsarbeit am ZFP gilt der Befähigung und Unterstützung von Unternehmen bei der Umsetzung frugaler Innovationen. Das umfasst den Dienstleistungs- und Konsumgüterbereich, insbesondere auch den Investitionsgüterbereich. Das ZFP stellt interessierten Unternehmen seine Kompetenzen zur Beratung und Prototypentwicklung bereit. Darüber hinaus können Unternehmen in gemeinsamen Vorhaben mit den ZFP-Partnern auf eine Entwicklungsumgebung für frugale Innovationen zurückgreifen. Das ZFP kooperiert eng mit den S-TEC Zentren und weiteren renommierten Forschungseinrichtungen.

Wie kann ich mich der frugalen Innovation ganz praktisch nähern?

Schleinkofer: Das Zentrum für Frugale Produkte und Produktionssysteme, kurz ZFP, bietet Unternehmen eine kostenfreie Durchführung von Machbarkeitsstudien, sogenannter Exploring Projects an. Innerhalb dieses Projektformats prüfen unsere Fraunhofer-Experten und -Expertinnen die Ideen eines Unternehmens auf Machbarkeit, entwerfen Lösungskonzepte und setzen erfolgversprechende Ansätze prototypisch um. Dies ist oft der Einstieg in eine längerfristige Zusammenarbeit. Die kann dann in verschiedenen Projektformaten – Industrieprojekt, öffentlich gefördertes Projekt oder Enterprise Lab – fortgesetzt werden.

Hinweis

Dieses Interview erschien zuerst auf https://prompd.news/.

Ihr Ansprechpartner

Dr.-Ing. Uwe Schleinkofer

Leiter des Zentrums für Frugale Produkte und Produktionssysteme
Telefon: +49 711-970-1553