Go with the Flow: Matrixproduktion im Fluss

Michael Scholz im Karlsruher Werk der Siemens AG

Michael Scholz im Karlsruher Werk der Siemens AG. (Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez)

Go with the Flow: Matrixproduktion im Fluss

Das Fraunhofer IPA und die Siemens AG in Karlsruhe betreiben das Lab »Matrixproduktion im Fluss«. Ziel ist eine umfassende Transformation der Fertigungsstruktur in eine Matrixproduktion. Im Gespräch mit »interaktiv« geben die beiden Projektverantwortlichen Einblicke in ihre bisherige Arbeit.

Veröffentlicht am 20.04.2023

Lesezeit ca. 9 Minuten

Der Standort Karlsruhe ist mit rund 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines der größten Werke der Siemens AG in Deutschland und das größte Werk für Industrie-PCs des Konzerns. Die Fertigungstiefe deckt fast alle Stufen der Elektronikproduktion ab: Siemens bestückt und prüft einerseits Flachbaugruppen. Andererseits wird in Karlsruhe ein variantenreiches Spektrum an Produkten montiert, geprüft und getestet, das von Automatisierungssystemen über Prozessleitsysteme und Industrie-PCs bis zur industriellen Kommunikation und Objektidentifikation reicht. 2021 wurde das Werk als »Fabrik des Jahres« ausgezeichnet.

Um den gestiegenen Marktanforderungen an Flexibilität und Qualität zu genügen, die Wettbewerbsfähigkeit im globalen Vergleich zu verbessern und immer komplexer werdenden Kundenwünschen gerecht zu werden, hat Siemens einen umfassenden Prozess der digitalen Transformation im Werk Karlsruhe angestoßen. Das Fraunhofer IPA unterstützt seit September 2019 in verschiedenen Projekten bei dieser Transformation. Um die vielen interdisziplinären Themen bearbeiten zu können, wurde Anfang 2022 eine langfristige Entwicklungskooperation vereinbart und ein sogenanntes Lab-Projekt mit einer Laufzeit bis Dezember 2024 ins Leben gerufen. Fokus der Lab-Kooperation ist die Matrixproduktion mit den angegliederten Themen »Der Mensch im Mittelpunkt« und »Lean Production«.

Im Gespräch mit interaktiv erklären die beiden Projektleiter Michael Scholz (Siemens) und Michael Trierweiler (Fraunhofer IPA), wie die neue Werkstrategie am Siemens-Standort Karlsruhe gemeinsam umgesetzt wird.

Herr Scholz, schon im Sommer 2019 titelte das »Handelsblatt«: »Der leise Abschied von Henry Ford«. Gemeint war damit die Abkehr vom Fließband und die Hinwendung zu Matrixproduktionssystemen. Warum setzt Ihr Werk in Zukunft nicht mehr ausschließlich auf hochspezialisierte Produktionsstraßen, sondern ergänzt diese durch matrixstrukturelle Konzepte?

Michael Scholz: Das liegt vor allem an unserer sehr hohen Produktvarianz. Wenn wir bei der klassischen Linienstruktur bleiben würden, würden wir eine große Anzahl an Linien benötigen, hätten dadurch einen hohen Investitionsbedarf und könnten somit das Produkt nicht wirtschaftlich herstellen. Dazu kommt die Notwendigkeit einer hohen Automatisierung aufgrund des Produkts, das wir herstellen. Flachbaugruppen in der Elektronikproduktion werden hoch automatisiert bestückt.

Die Matrixproduktion, wie wir sie leben, nennen wir »Matrixproduktion im Fluss«. Sie ermöglicht sehr hohe Produktvarianten und -volumina, weil jeder einzelne Matrixabschnitt jedes Produkt bearbeiten kann. Wir investieren in eine gewisse Anzahl an Anlagen und nutzen diese Anlagen dann hochflexibel. Das heißt, wenn man von außen draufschaut, sieht die Produktion einer Werkstattfertigung ähnlich. Das wäre dann noch ein Schritt vor Henry Ford. In dieses Layout legen wir aber einen virtuellen Fluss, so bleiben wir im One-Piece-Flow. Dieses wichtige Element der Lean-Fertigung von Henry Ford übernehmen wir. Damit kombinieren wir das Beste aus beiden Welten: Die Flexibilität der verrichtungsorientierten Organisation und die Produktivität der Lean Production.

Portraitfoto von Michael Scholz
Michael Scholz. (Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez)

Michael Scholz, Head of Engineering Industry PC im Fertigungswerk Karlsruhe der Siemens AG, kombiniert Matrix und Lean. Er war bei Siemens unter anderem Projektleiter für die digitale Anbindung der SMT-Fertigungsanlagen und deren physische Vernetzung mit autonomen, mobilen Transportrobotern zur Ausbildung einer hochflexiblen Matrixproduktion. Mit der Digitalisierung und Wertschöpfung durch wandlungsfähige Produktionssysteme schafft der promovierte Maschinenbauer die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Produktion.

Herr Trierweiler, welche Rolle spielt Industrie 4.0 bei Matrixproduktionssystemen?

Michael Trierweiler: Eine sehr entscheidende. Denn gerade der virtuelle Fluss zur Verknüpfung der einzelnen Produktionsmodule in einer Matrixproduktion wird erst durch die Techniken von Industrie 4.0 möglich. Um diesen möglichst effizient zu gestalten, müssen permanent Daten erfasst und darauf basierend Optimierungsentscheidungen in Echtzeit getroffen werden. Anschließend müssen Steuerungsbefehle an die Prozessmodule sowie an die Automated Guided Vehicles, kurz AGVs, zur Ausführung der Materialtransporte gesendet werden. Außerdem unterstützen digitale Assistenzsysteme Werker und Führungskräfte. Dazu braucht es unter anderem eine durchgehende Vernetzung, die im Rahmen von Industrie 4.0 entwickelt wurden.

Herr Scholz, hatten Sie Schwierigkeiten, Ihre Mitarbeitenden auf die Reise zu einem neuen Produktionssystem mitzunehmen?

Scholz: Einzelne Umsetzungsschritte waren schwierig. Aber, was uns besonders wichtig ist: Die digitale Fabrik wird erst durch den Menschen intelligent. Darum haben wir ein Transformationsteam, das die Mitarbeitenden mitgenommen hat. Viele Bedenken wurden aus dem Weg geräumt. Viele haben auch Lust, selbst die Transformation mitzugestalten. Beispiel: Unsere Mitarbeiter haben den fahrerlosen Transportfahrzeugen, den FTF, Namen gegeben. Damit bekommen die Fahrzeuge eine Rolle im Team. »Wicki und die Starken Männer« sind unsere FTF. So wird der Kollege Roboter geschaffen, der auch mal Fehler macht und Hilfe braucht.

Herr Trierweiler, welches Ziel hat die Lab-Kooperation zwischen Siemens und dem Fraunhofer IPA?

Trierweiler: Als gemeinsames Ziel verfolgen wir die stetige Weiterentwicklung des Werks. Dazu bringt das Fraunhofer IPA interdisziplinäres Know-how und Mitarbeiterkapazität ein. Bisher waren dies hauptsächlich Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Produktionsmanagement, Digitalisierung und Automatisierung. Nach Bedarf können wir auch Infrastruktur zum Beispiel zum Aufbau von Demonstratoren zur Verfügung stellen.

Herr Scholz, können Sie bereits von ersten Ergebnissen und vielleicht auch Lösungen berichten, die im Lab entwickelt wurden?

Scholz: Das Spannende an dem Lab: Wir arbeiten im Tertial-Takt. Jedes Projekt muss innerhalb von vier Monaten ein definiertes Ziel erreicht haben. So generieren wir alle vier Monate Ergebnisse, die einen direkten Impact auf unsere Werkziele haben. Ein tolles Beispiel ist die »Mini-Matrix«. In dem Projekt haben wir ein Matrixsystem in einer hochautomatisierten Endmontage getestet. Da haben wir die FTF-Shuttles auf Tischebene gehoben, die als frei fahrende Werkstückträger ohne Band die Produkte zwischen den Fertigungsstationen transportieren. Mit dem Fraunhofer IPA haben wir den Prozess simuliert und konnten so die Auslegung und Grenzkapazität bestimmen.

Herr Trierweiler, lassen sich die Ergebnisse aus dem Lab einfach auf andere Unternehmen übertragen oder ist ein Matrixproduktionssystem immer genau auf das zu produzierende Produkt ausgelegt?

Trierweiler: Zunächst unterscheiden sich in jeder Anwendung Ausgangssituation und Fragestellung, zum Beispiel geht es um Fertigungs- oder Montageoperationen oder auch darum, auf welche Kennzahlen das Produktionssystem optimiert werden soll. Die Prinzipien, die wir bei der Gestaltung von Matrixproduktionssystemen nutzen, sind dabei aber immer die gleichen – Modularisierung gepaart mit einem optimierten flexiblen Materialfluss. Genau das ermöglicht hohe Flexibilität im täglichen Betrieb, kombiniert mit einer hohen Produktivität sowie Möglichkeiten der Rekonfiguration im taktischen Zeitraum. Im Detail führt dies immer zu anwendungsfallspezifischen Lösungen, aber die grundsätzlichen Erkenntnisse und Erfahrungen lassen sich übertragen.

Sind Matrixproduktionssysteme auch für kleine und mittlere Unternehmen interessant?

Trierweiler: Absolut, denn gerade in KMU ist der Bedarf nach flexiblen und veränderungsfähigen Produktionssystemen hoch. Dazu erfordert der stetig steigende Kostendruck hohe Produktivität. Dies können Matrixproduktionssysteme bieten. Vermeintlich hohe Investitionen schrecken KMU bisher jedoch noch ab. Unsere Gespräche mit KMU zeigen, dass viele im Glauben verharren, dass Matrixproduktionssysteme nur von Konzernen mit großen Entwicklungsabteilungen eingeführt werden können. Dies ist jedoch nicht der Fall. Man kann sich dem Thema schrittweise und somit mit überschaubaren Aufwänden und Risiken nähern. Hier müssen wir als öffentliches Forschungsinstitut noch weiter Aufklärungsarbeit und Wissenstransfer leisten.

Herr Scholz, das Siemens-Werk in Karlsruhe wurde als »Fabrik des Jahres« ausgezeichnet. Was muss man da überhaupt noch optimieren?

Scholz: Da fällt mir sofort folgendes Zitat ein: »Wer aufhört, besser zu werden, hat schon aufgehört, gut zu sein.« Wir hinterfragen uns permanent und versuchen jeden Tag, ein kleines bisschen besser zu werden und unsere Prozesse zu optimieren. Wir sind mit Sicherheit noch nicht mit unseren Ideen am Ende.

Portraitfoto von Michael Trierweiler
Michael Trierweiler. (Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez)

Michael Trierweiler hat Maschinenbau studiert und ist seit 2018 am Fraunhofer IPA. Als Projektleiter betreibt er anwendungsorientierte Forschung im Bereich Montagesystemgestaltung, digitale Transformation in der Montage und vor allem Matrixmontage. Mitte 2022 veröffentlichte er gemeinsam mit weiteren Fraunhofer-Kolleginnen und -Kollegen die Expertise »Umsetzung von cyber-physischen Matrixproduktionssystemen«. In seiner Dissertation entwickelt er eine Methodik zur permanenten Rekonfiguration von Matrixproduktionen, um diese kontinuierlich an veränderte Anforderungen anzupassen.

Hat Ihnen die Kooperation mit dem Fraunhofer IPA auch geholfen, die Auszeichnung zu erhalten?

Scholz: Definitiv. Es sind genau diese Impulse von außen, die man braucht. Auch die kritischen. Die Wissenschaftler des Fraunhofer IPA bringen disruptive Ideen ein, die teilweise zwar weit vor dem sind, was wir direkt umsetzen können, aber immer wieder neue Impulse setzen. Sie hinterfragen Themen neu, die man selbst nicht mehr hinterfragt. Genau so war es bei der Matrixfertigung: Um Band und Takt aufzulösen, braucht es Impulse und neue Ansätze aus der Forschung.

Ihr Ansprechpartner

M.Sc. Michael Trierweiler

Stellvertretender Leiter der Gruppe Montageplanung und datengetriebene -optimierung
Telefon: +49 711 970-1930