»Ein altes Haus neu aufbauen«

Voith_Paper_Stoffaufbereitung_für_Verpackungspapiere

Quelle: Voith Media Archiv

»Ein altes Haus neu aufbauen«

Komplexe Hightech-Maschinen einfacher und günstiger zu produzieren – so lautete ein Teil des Erfolgsrezepts, das die Firma Voith Paper ab dem Jahr 2012 aus der Krise geführt hat. Mit der Serie BlueLine ist das Traditionsunternehmen von der Ostalb zu einem Vorreiter für frugale Produktionssysteme geworden. Heute gehört Voith wieder zu den Weltmarktführern bei Stoffaufbereitungsanlagen.

Lesezeit ca. 6 Minuten

Frugal bedeutet laut Duden »einfach, sparsam, oder bescheiden«. Ein frugales Produkt verzichtet auf Schnickschnack. Es ist einfach aufgebaut, preiswert und leicht bedienbar. Frugal ist zum Beispiel ein Hammer oder ein Handy, mit dem man zwar nur telefonieren kann, dessen Akku aber sehr lange hält. In manchen Branchen sind frugale Produkte schon lange Standard. Im Maschinen- und Anlagenbau ist der Trend erst in den letzten Jahren aufgekommen. Die Unternehmensberatung Roland Berger hat im Jahr 2013 frugale Produkte erstmals definiert. Sie sind funktional, robust, nutzerfreundlich, auf Wachstum ausgelegt, kostengünstig und an lokale Begebenheiten angepasst.

Frugal war aber gar nicht die Zielsetzung, als die Firma Voith Paper aus Heidenheim im Jahr 2010 begonnen hat, ihr Produktportfolio für die Stoffaufbereitung radikal zu erneuern. Vielmehr waren wirtschaftliche Gründe der Treiber. Andreas Heilig, der seit 20 Jahren bei Voith in Ravensburg arbeitet und derzeit das globale Produktmanagement im Bereich Stoffaufbereitung verantwortet, erinnert sich: »Unsere Zahlen waren grottenschlecht«, sagt der gelernte Werkzeugmacher, der auf dem zweiten Bildungsweg studiert hat. Die Produktion war nicht ausgelastet und die Maschinen wurden zu Niedrigpreisen mit Verlusten verkauft. »Das war eine schlimme Zeit. In Ravensburg mussten wir sehr viele Leute entlassen und die Produktion schließen«, erklärt Heilig, der selbst aus der Bodensee-Region kommt.

Mit dem Wandel im Zeitungsmarkt brachen Umsätze ein

Die Ursache für die niedrigen Umsätze ist der Wandel im Papiermarkt. Voith Paper war auf qualitativ hochwertige graphische Papiersorten spezialisiert. Mit der Digitalisierung reduzierten aber immer mehr Printmedien ihre Auflagen. Die Nachfrage nach Zeitungspapier nahm radikal ab. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Stoffaufbereitungsanlagen, denn Zeitungsdruckpapier benötigt eine aufwändige Reinigung des Altpapiers. »2009 haben wir noch 700 Maschinen verkauft, 2012 waren es nur noch 500«, so Heilig. Hinzu kam, dass das Produktportfolio nicht harmonisiert war. Gründe waren Zukäufe anderer Unternehmen sowie wie eine unzureichende standortübergreifende Konstruktionsrichtlinie zur Entwicklung von Anlagen und Komponenten. Heilig, der selbst schon Fertigungsleiter bei Voith Paper war, bekennt: »Oft erkannte man an einer Maschine die Handschrift des Konstrukteurs. Da gab es keine klare Linie und die Fertigung war teuer und aufwändig«.

Bisher verwendete Schneckenpresse von Voith Paper
Die Schneckenpresse von Voith Paper vor der Umstellung auf BlueLine. (Foto: Voith Media Archiv)

Hans-Ludwig Schubert, der seit 18 Jahren bei Voith arbeitet und den Umstellungsprozess als Leiter des globalen Produktmanagements angestoßen hat, erkannte noch einen weiteren Grund: »Der Weltmarkt für Papier verlagert sich immer stärker in Schwellenländer. Hier ist deutsches Hightech zwar gefragt, doch unsere Maschinen waren für die Unternehmen in Indien oder Asien mit Zoll und Versand viel zu teuer«, bestätigt der gebürtige Westfale. Eine Fertigung vor Ort kam nicht in Frage, weil Materialien und Know-how fehlten. Außerdem passten die Maschinen nicht zu den Bedürfnissen der Schwellenländer. Hier seien einfache, robuste Anlagen für Verpackungen wie zum Beispiel Kartonagen gefragt, denen Dreck oder Glasreste in den Ausgangsrohstoffen nichts anhaben können.

Deutsche Technik zu Höchstpreisen in Schwellenländern nicht gefragt

Die Initialzündung für die neue Strategie kam Schubert in einer Beiratssitzung. Dort habe man überlegt, die Produktstruktur bei Voith Paper zu harmonisieren, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. »Das wäre mit dem bestehenden Produktprogramm ein riesiger Aufwand gewesen. Ich dachte, wenn man ein altes Haus ausräumen muss, kann man es auch gleich neu bauen«, so Schubert. Anstelle einer Aufräumaktion wollte er das Produktportfolio komplett erneuern. Die Voith-Geschäftsführung unterstützte sein Vorhaben. Ziele waren, die Herstellungskosten um 40 Prozent zu reduzieren, die Qualität beizubehalten und robust sowie einfacher zu werden. Als zusätzlichen Kundennutzen wollte Schubert, »wenn man es denn schon neu macht«, die Bedienbarkeit der Maschinen verbessern. Dass das, was Voith Paper vorhatte, »frugal« ist, sei dem Unternehmen damals nicht bewusst gewesen, erklärt Schubert. Doch wie lässt sich die neue Strategie umsetzen?

»Wir haben das Produktportfolio massiv gekürzt und vereinfacht«, erklärt er die ersten Maßnahmen. Etwa die Hälfte aller Maschinentypen wurde vom Markt genommen und nicht mehr gefertigt. »Damit haben wir Freiräume gewonnen. Neue Leute konnten wir zu dieser Zeit ja nicht einstellen«, so Schubert. Im nächsten Schritt nahmen die Konstrukteure die teuersten Maschinentypen unter die Lupe und schauten, wie man sie vereinfachen kann. Es sollte der Ressourceneinsatz reduziert und Materialkosten gespart werden. Außerdem wollte Voith Paper »Simultanous Engineering« betreiben.

Viele befürchteten, dass die Maschinen schlechter werden

Ein wichtiger Punkt war, die Produkte und Prozesse zu standardisieren. Das neue Produktportfolio sollte eine klare Maschinenstruktur aufweisen und sich besser fertigen lassen, egal wo. Die Konstrukteure vereinheitlichten die Stücklisten und stellen sicher, dass man einzelne Bauteile für viele Maschinen verwenden kann. Es wurde außerdem ein Life-Cycle-Management eingeführt, mit dem man die Maschinen über den ganzen Lebenszyklus hinweg aktuell hält. Die neuen Maschinen wurden später unter dem Namen »BlueLine« in den Markt eingeführt.

Von der neuen Unternehmensstrategie waren erst einmal nicht alle Mitarbeiter begeistert: »Wir haben zu Projektbeginn im Jahr 2011 eine Umfrage durchgeführt und weniger als 30 Prozent Zustimmung erhalten«, weiß Schubert. Am ehesten zugestimmt haben diejenigen Mitarbeiter, die einen persönlichen Vorteil in der Vereinfachung sahen, etwa die Fertigung. Viele erfahrene Konstrukteure haben hingegen befürchtet, dass die Maschinen mit der Standardisierung schlechter werden. »In einem Hightech-Land wie Deutschland will man nichts einfacher machen«, so der Experte. Insbesondere das Kostenersparnisziel von 40 Prozent hielten viele für utopisch. Erst als die Erfolge sichtbar wurden, nahm die Zustimmung zu. Für Schubert war von Anfang an klar, dass die Umstrukturierung auf »frugal« fest im Unternehmen verankert werden musste. »Man kann nicht früh genug damit anfangen und muss alle mitnehmen«, so der Experte.

Installierte BlueLine-Schneckenpresse von Voith Paper
Aktuelle BlueLine-Schneckenpresse von Voith Paper. (Foto: Voith Media Archiv)

Schneckenpresse nach frugalen Prinzipien überarbeitet

Eines der ersten Produkte, das Voith Paper überarbeitet hat, war die Schneckenpresse. Sie gehört zu den teuersten Modulen einer Stoffaufbereitung und sorgt dafür, dass der Papierstoff eingedickt und das Filtrat mittels eines Siebkorbs abgeschieden wird. Bei der alten Maschine war es ein enormer Aufwand, die Siebkörbe für Wartungs- und Reinigungsarbeiten zu demontieren. »Der Siebkorb war aus einem Stück gefertigt. Man musste die Pressschnecke ziehen, um dran zu kommen«, klagt Heilig. Im neuen Design ist der Siebkorb zweigeteilt. Man kann den Deckel öffnen und ihn einfach herausnehmen. Außerdem spart man gut sechs Meter Platz, weil das Aufziehen entfällt. Weiterhin haben die Konstrukteure bei der BlueLine-Schneckenpresse Werkstoffe kostengünstiger eingesetzt und die Maschine insgesamt kompakter gebaut. »Damit haben wir 30 Prozent der Herstellungskosten gespart. Die positiven Eigenschaften des alten Modells, die einfache Entwässerung und die Robustheit, blieben erhalten«, bestätigt Schubert.

Die Umstellung auf BlueLine hat ihr Ziel deutlich erreicht. Fünf Jahre nach Projektbeginn gehören 130 von insgesamt 270 Maschinen im Voith-Paper-Portfolio für die Stoffaufbereitung der BlueLine-Produktfamilie an. Weitere Maschinen sollen nach dem frugalen Prinzip überarbeitet werden. 80 Prozent des Gesamtumsatzes erzielt Voith Paper bei Stoffaufbereitungsanlagen heute mit BlueLine-Produkten. Im Jahr 2017 verzeichnete das Traditionsunternehmen einen Auftragseingangsrekord für Stoffaufbereitungsmaschinen. Über 1000 Maschinen wurden verkauft – das sind doppelt so viele als im Jahr 2012. Voith Paper hat nicht vor, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. »Wir wollen das Prinzip von BlueLine auf das restliche Portfolio wie zum Beispiel die Papiermaschinen ausrollen«, informiert Schubert.

Zum Weiterlesen

Im Gespräch mit interaktiv verraten Uwe Schleinkofer (Fraunhofer IPA), Andreas Heilig und Hans-Ludwig Schubert (beide Voith Paper), worauf es beim Trend »frugal« ankommt. Schleinkofer beforscht das Thema seit sechs Jahren, Heilig und Schubert haben es erfolgreich umgesetzt. Jetzt lesen!

Ihr Ansprechpartner

M.Sc. Uwe Schleinkofer

Leiter des Zentrums für Frugale Produkte und Produktionssysteme
Telefon: +49 711 970-1553