Der Kratzer im Lack, der von selbst verheilt

Rendering: Zwei Roboter lackieren eine Fahrzeugkarosserie

In Lacksysteme integrierte Mikrokapseln können Kratzer in Funktions- und Farbschichten wieder verschließen. (Quelle: Fraunhofer IPA)

Der Kratzer im Lack, der von selbst verheilt

Selbstheilende Oberflächen klingen nach Science-Fiction und wecken Erinnerungen an die Terminator-Filme mit Arnold Schwarzenegger. Doch sie sind real. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Fraunhofer IPA und Fraunhofer IAP forschen dazu. Im Gespräch mit »interaktiv« geben sie Einblicke in ihre Arbeit.

Veröffentlicht am 01.02.2024

Lesezeit ca. 10 Minuten

Ein kleines Missgeschick genügt: Es muss einem beim Tanken nur im falschen Moment die Zapfpistole aus der Hand gleiten und schon ist der Lack verkratzt und der Ärger groß. Wäre es nicht schön, wenn Kratzer ganz von alleine ausheilten – ohne Termin in der Autowerkstatt oder Scherereien mit der Versicherung?

Genau das könnte in Zukunft der Fall sein. Möglich machen das sogenannte Mikrokapseln. Sie sind in den Lack eingearbeitet und enthalten eine Aktivsubstanz. Wird der Lack beschädigt, platzen die Kapseln auf, die Aktivsubstanz tritt aus und der Besuch in der Werkstatt kann aufgeschoben werden, weil sich der Kratzer nicht weiter ausbreitet. Wie genau das funktioniert, woraus die Kapseln bestehen, wie sie in den Lack kommen und wozu sie sonst noch gut sein könnten, verraten Alexandra Latnikova vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP in Potsdam sowie Ivica Kolarić und Marc Entenmann vom Fraunhofer IPA im Interview.

Woraus bestehen diese Mikrokapseln?

Alexandra Latnikova: Ganz allgemein bestehen die Kapseln aus einem Kern- und einem Wandmaterial. Das Kernmaterial ist meist eine Aktivsubstanz, die später freigesetzt wird. Auf selbstheilende Oberflächen bezogen könnten das Korrosionsinhibitoren, Schmieröle, Kleberkomponenten oder Kombinationen aus diesen drei Aktivsubstanzen sein. Das Wandmaterial kann aus vernetzten oder unvernetzten Polymeren, aber auch aus anorganischem Silizium- oder Titandioxid und deren Kombinationen bestehen.

Und wie schafft man es, dass das Kernmaterial von einem Wandmaterial umhüllt wird?

Latnikova: Es beginnt mit einer Emulsion …

… also mit einem trüben Gemisch zweier Flüssigkeiten, die sich eigentlich nicht mischen lassen.

Portrait von Alexandra_Latnikova

Alexandra Latnikova ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Mikroverkapselung/Polysaccharidchemie am Fraunhofer IAP. Die promovierte Chemikerin forscht schwerpunktmäßig an der Entwicklung nachhaltiger Mikroverkapselungsprozesse.

Marc Entenmann: Der Knackpunkt sind die zwei Phasen einer Emulsion. Zum Beispiel ist das Material für den Kern in der einen und das Material für die Hülle in der anderen Phase enthalten. An der Phasengrenze wächst dann unter geeigneten Bedingungen die Hülle.

Latnikova: Damit am Ende alle Tröpfchen von einer Hülle umgeben sind, braucht es eine geeignete Verkapselungstechnik. Führend ist die sogenannte Melaminharztechnologie, die im Moment zum Beispiel noch bei der Herstellung von Duftstoffen zum Einsatz kommt. Bei ihr ist das Melaminharz in Wasser gelöst, fängt an zu polymerisieren, sammelt sich an der Tröpfchenoberfläche und fällt dort aus.

Wie werden die Mikrokapseln in Beschichtungen, Lacke beispielsweise, integriert?

Latnikova: Kapseln kommen beispielsweise in wasserbasierten Formulierungen, also zum Beispiel in Farben, zum Einsatz. Eine konzentrierte wässrige Mikrokapseldispersion wird in diesem Fall einfach einer Farbformulierung beigemischt. Dafür genügt ein handelsübliches Rührwerk, wie man es von Baustellen kennt. Bei lösungsmittelbasierten Lacken ist es schon schwieriger, die Mikrokapseln einzuarbeiten. Da werden die Kapseln als trockenes Pulver in den Lack eingearbeitet. Die Dispergiertechnik, die dabei zum Einsatz kommt – Walzen etwa oder Rotor-Stator-Homogenisatoren –, muss sorgfältig gewählt werden, weil immer die Gefahr besteht, dass die Kapseln bei der Einarbeitung zerstört werden.

Portrait Marc Entenmann

Marc Entenmann leitet die Gruppe Pigmente und Beschichtungen und ist stellvertretender Leiter des Zentrums für Dispergiertechnik am Fraunhofer IPA. Der promovierte Chemiker beschäftigt sich vor allem mit Bindemittelformulierungen, Dispersionen und der Funktionalisierung beziehungsweise Oberflächenmodifizierung von Partikeln.

Ivica Kolarić: Genau das ist die Crux: Einerseits möchte man Kapseln, die sich im richtigen Moment öffnen. Andererseits sollen sie bei der Verarbeitung möglichst robust sein, also nicht aufplatzen.

Wie verhindert man, dass die Mikrokapseln beim Mischen zerstört werden?

Kolarić: Durch eine schonende Verarbeitung. Man darf den Mischer nicht zu hoch einstellen. Oder man gibt die Mikrokapseln erst hinzu, wenn die anderen Komponenten, die in der Suspension vielleicht enthalten sind, bereits vorhomogenisiert sind. Also erst die Pigmente, dann die Kapseln beigeben – und die Schergeschwindigkeit beim Dispergieren vergleichsweise klein halten. Allerdings: Je schneller ein Prozess, desto wirtschaftlicher ist er. Ein Lack, der Mikrokapseln enthält, ist in der Herstellung also verhältnismäßig teuer.

Latnikova: Aber das zahlt sich an anderer Stelle aus: etwa dadurch, dass man eine besonders umweltfreundliche und langlebige Oberfläche hat, für die man mehr Geld verlangen darf. Oder auch dadurch, dass man zum Beispiel weniger Komponenten verbraucht und weniger Energie bei der Verarbeitung aufwenden muss.

Portrait Ivica Kolarić

Ivica Kolarić ist Leiter der Abteilung Funktionale Materialien am Fraunhofer IPA. Der Ingenieur forscht vor allem an Kohlenstoffnanomaterialien und elektroaktiven Polymeren.

Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Kapseln in der Beschichtung bleiben und gleichmäßig verteilt werden?

Latnikova: Die Dichte und Größe von Mikrokapseln sowie deren Oberflächeneigenschaften müssen stimmen. Beispielsweise müssen die Kapseln negativ geladen sein, um mit einer wasserbasierten Farbe kompatibel zu sein. Zu dichte und zu große Kapseln könnten zu schnell sedimentieren. Zu kleine Kapseln lassen sich manchmal nicht so gut dispergieren.

Entenmann: Wichtig beim Homogenisieren ist auch, dass die Partikel von dem Lösemittel benetzt sind. Sind sie das nicht, sind sie von einer Lufthülle umgeben und haben Auftrieb. In diesem Fall hat man dann ungewollt an der Oberfläche so eine Art Lotuseffekt, wobei die Partikel dann zumeist schnell abgerieben werden, weil sie nicht fest in der Matrix verankert sind. Andererseits setzen sich die Kapseln unten ab, wenn sie groß sind, der Lack dünnflüssig ist und er lange zum Abbinden braucht.

Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Kapseln bei Schäden ihrer Aufgabe nachkommen?

Kolarić: Ganz salopp: Die Kapseln müssen sich öffnen. Wenn jemand versehentlich mit dem Autoschlüssel einen Kratzer in den Lack macht, zerstört er damit auch die Mikrokapseln und die Selbstheilung beginnt.

Latnikova: Manchmal ist es aber auch gar nicht gewünscht, dass die Kapseln aufplatzen – beim Korrosionsschutz zum Beispiel. Da setzt man eher auf die Permeabilität der Kapselwand. Die ist ja abhängig von den Umgebungsbedingungen, vom pH-Wert etwa. Ist ein bestimmter Zustand erreicht, werden die Kapseln durchlässiger und sondern ihren Wirkstoff ab. Dadurch kann man erhebliche Mengen an Korrosionsschutzmittel sparen und die Lebensdauer von Beschichtungen verlängern.

Entenmann: Die NASA nutzt zum Beispiel Mikrokapseln, die den pH-Indikator Phenolphthalein enthalten und bei alkalischen Umweltbedingungen durchlässig werden. Phenolphthalein ist bei einem pH-Wert zwischen null und 8,2 farblos, bei höheren Werten färbt es sich rosa. So werden Korrosionsvorgänge zum Beispiel am Material des Spaceshuttles sichtbar, die mit bloßem Auge sonst nicht erkennbar wären. Das erleichtert den Kontrolleuren die Arbeit ungemein.

Nimmt der Reibungswiderstand einer Oberfläche zu, wenn der Lack Mikrokapseln enthält? Verringert sich dadurch also die Höchstgeschwindigkeit eines Sportwagens?

Entenmann: Nein, die Kunst besteht genau darin, dass die Mikrokapseln genauso wie Pigmente und Additive keine solchen Auswirkungen auf eine Oberfläche haben dürfen. Und abgesehen davon gibt es ja in der Natur auch den Fall, dass die Oberflächenstruktur den Reibungswiderstand sogar noch verringert. Bei der Haifischhaut ist das zum Beispiel so. Es ist bisher allerdings noch niemandem gelungen, diesen Effekt für die Oberflächentechnik effektiv industriell nutzbar zu machen. Das wäre ein ganz neuer zusätzlicher Anwendungsfall für Mikrokapseln.

Fraunhofer-Technologieplattform Mikroverkapselung TPM

Die Fraunhofer-Technologieplattform Mikroverkapselung TPM wurde 2009 am Fraunhofer IAP gegründet und bildet einen zentralen Ort für den Austausch von Informationen über neueste Entwicklungen und Trends in der Mikroverkapselung. Außerdem fördert die Plattform die Vernetzung und Zusammenarbeit innerhalb der Branche durch Netzwerktreffen, Workshops und andere Veranstaltungen.

Wenn die Korrosionsschäden eines Materials selbstständig ausheilen, sind dann Brückeneinstürze wie der von Genua im August 2018 in Zukunft unwahrscheinlicher?

Entenmann: Unwahrscheinlicher schon. Aber ganz verhindern wird man Brückeneinstürze mit Mikrokapseln nicht können. Brücken werden routinemäßig überprüft und bestimmte Verschleißteile regelmäßig erneuert. Wenn diese Verschleißteile nun Mikrokapseln enthalten, lassen sich diese Intervalle verlängern. Aber trotzdem kann es weiterhin passieren, dass Schäden unentdeckt bleiben und sich im Extremfall verschiedene ungünstige Faktoren chaotisch überlagern, bis es zur Katastrophe kommt. Da helfen wahrscheinlich eher Sensoren, die Korrosion erkennen und melden.

Kolarić: Die Königsdisziplin wäre eine Kombination aus Mikrokapseln und Sensorik. Sensoren also, die dazu führen, dass Mikrokapseln ihren Wirkstoff ausschütten, wenn ein bestimmter, vorher festgelegter Punkt erreicht ist. Korrosion kann man zwar nicht vermeiden, aber man kann lernen sie zu managen und mehr oder weniger automatisiert zu überwachen. Aber Mikrokapseln machen ja mehr denkbar als nur Korrosionsschutz und Lackkratzer, die von selbst verheilen. Selbstheilende Leiterbahnen zum Beispiel.

Entenmann: Denkbar sind auch Mikrokapseln, die antimikrobielle Stoffe oder UV-Schutzmittel enthalten. Im Moment ist es ja noch so, dass die UV-Schutzwirkung einer Oberfläche recht schnell verfliegt. Solche Oberflächen wären also deutlich langlebiger, wenn das UV-Schutzmittel in Kapseln enthalten wäre und nur abgegeben wird, wenn man es tatsächlich braucht. Bei den Bioziden haben sich die Kapseln schon eher bewährt und führen dazu, dass der Wirkstoff nicht mehr so unkontrolliert austritt und dann nicht nur Weintrauben vor Schädlingen schützt, sondern im Boden versickert und dort das Mikrobiom zerstört. Mikrokapseln haben also das Zeug, in Zukunft noch völlig neue Märkte zu erschließen.

Marc Entenmann und Ivica Kolarić im Labor
Forscher Marc Entenmann und Ivica Kolarić in ihrem Labor am Fraunhofer IPA. (Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez)

Welche zum Beispiel?

Kolarić: Medizintechnik, Luft- und Raumfahrtechnik, Life Science, aber auch Luxusgüter und Sportartikel sind gute Einstiegsmärkte, weil man dort recht hohe Preise abrufen kann. Langfristig wird auch der Automobilsektor ein wichtiger Markt sein. Dafür ist allerdings noch viel Entwicklungsarbeit nötig, weil die Anforderungen an funktionale Oberflächen in der Automobilindustrie am höchsten sind.

Ihre Ansprechpartner

Ivica Kolarić

Abteilungsleiter Funktionale Materialien
Telefon: +49 711 970-3729

Alexandra Latnikova

Stv. Abteilungsleiterin Mikroverkapselung/Polysaccharidchemie
Telefon: Telefon: +49 331 568-1207

Marc Entenmann

Gruppenleiter Pigmente und Beschichtungen
Telefon: +49 711 970-3854