Quelle: Blue Planet Studio – stock.adobe.com
»Um wettbewerbsfähig zu bleiben, muss man Strukturen anpassen«
Agile Supply Chain: Ist die Vision aus den 1990er Jahren bereits gelebte Realität? Wo stehen wir heute, wohin geht die Reise zukünftig? »interaktiv« begibt sich mit zwei Experten auf Spurensuche.
Veröffentlicht am 18.08.2022
Lesezeit ca. 8 Minuten
Frau Bittner, was macht für Sie eine agile Supply Chain aus?
Angelika Bittner: Eine durchgängig vernetzte Wertschöpfungskette – sowohl innerhalb des Unternehmens als auch mit allen externen Akteuren wie Lieferanten und Kunden. Im Zielbild geht es schließlich um das Zusammenspiel zwischen diesen Akteuren: ein starkes Netzwerk mit digital gesteuerten Prozessen und gleichzeitig einem hohen Grad an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in der Supply Chain, um bei volatilen Marktbedingungen schnell agieren zu können, im besten Fall präventiv.
Wie weit hat SEW-EURODRIVE dieses Zielbild umgesetzt?
Angelika Bittner: Wir sind im Realisierungsmodus. Bereits sehr früh hat unsere Geschäftsführung mit der Einführung des Lean Managements und der Weiterentwicklung nach der Industrie-4.0-Philosophie die Voraussetzungen für eine agile Supply Chain geschaffen. Daran knüpfte 2019 die unternehmensweite digitale Transformationsstrategie an. Ziel ist es, eine »atmende« Wertschöpfung aufzubauen. In diesem Rahmen beschäftigt sich der bereichsübergreifende Think Tank für agiles Supply Chain Management mit Vertretern aus Fertigung, Intralogistik, Disposition, Einkauf und IT.
Wie viel Struktur vs. Freiheit braucht eine »atmende« Wertschöpfung?
Angelika Bittner: Strukturell gilt es aus Einkaufssicht, eine resiliente Lieferantenbasis aufzubauen. Das ist das Grundgerüst. Partnerschaften zu haben, auf die man schnell und flexibel zugreifen kann. Das gilt im Übrigen auch für die Fertigungs- und Montageprozesse. Als Dirigenten der Wertschöpfung haben sogenannte Smart Factory Units neben der gegebenen Struktur auch einen hohen Grad an Freiheit. Auftragsschwankungen, Störungen oder Sonderausführungen werden durch in einer Matrix angeordnete, autonome Prozessmodule eigenständig von diesen Einheiten gesteuert und bilden somit einen sehr wandlungsfähigen Materialfluss.
Angelika Bittner ist Gruppenleiterin Analytik & Prozesse Einkauf bei SEW-EURODRIVE in Bruchsal. Zusammen mit dem VDMA und dem WBK (KIT) hat sie in einem bereichsübergreifenden Arbeitskreis bei dem Leitfaden Antriebstechnik 4.0 mitgewirkt. Als Mitglied im Think Tank Agiles Supply Chain Management, initiiert durch das Digital Transformation Office von SEW-EURODRIVE, geht sie weit über das Thema Lean Management hinaus. Ziel ist es, durch eine durchgängig vernetzte und wandlungsfähige Wertschöpfungskette kürzere Auslieferungszeiten zu realisieren. Im Gespräch mit »interaktiv« schildert sie die Dinge aus der Sicht des Einkaufs.
Spielt die Unternehmensgröße bei der Umsetzung einer agilen Supply Chain eine Rolle?
Angelika Bittner: Nein, aus meiner Sicht nicht. Egal ob mit Großkonzern oder KMU: Mit einem professionellen Lieferanten-Management ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, unabhängig von Unternehmensgröße, möglich. Dass dies funktioniert, sieht man an der täglichen Arbeit des Facheinkaufs und dessen Schnittstellen.
Herr Fries, wie viel Dynamik steckt in diesem Thema?
Christian Fries: Grundsätzlich kann man sagen, dass das Lieferkettenthema durch Corona einen immensen Auftrieb erlebt hat. Auf Forschungsseite haben wir uns bereits vor der Pandemie intensiv mit dieser Thematik, auch unter Berücksichtigung von Flexibilitätsaspekten, auseinandergesetzt. Da lag auf Kundenseite eher der Fokus auf der Kostenminimierung, weniger auf der Steuerung und Flexibilität der Lieferkette. Aktuell liegt hier der Schwerpunkt. Es geht also nicht mehr nur primär darum, die Total Costs zu minimieren, sondern das Liefernetzwerk intelligent zu vernetzen, zu planen und zu steuern, um so zukünftig flexibler agieren zu können.
Die gesammelten Erfahrungen helfen also in der aktuellen Situation?
Christian Fries: In jedem Fall. Seit vielen Jahren analysieren wir in Kundenprojekten Lieferketten, nicht nur aus Struktursicht, sondern vor allem aus der Planungs- und Steuerungssicht. Dabei schauen wir auch, wie wir die Flexibilität abbilden und am Ende auch bepreisen können. Denn aus Kundensicht muss sich Flexibilität unterm Strich auch finanziell lohnen. Hinzu kommt, dass sich das Mindset anpassen muss. Flexible Konzepte rechnen sich nur dann, wenn die Flexibilitätsaspekte auch in den Business Cases abgebildet werden.
Die Studie »Supply Chain Management 2040« skizziert Megatrends. SEW-EURODRIVE: mittendrin und voll dabei?
Angelika Bittner: Ja, in der Tat, wir sind mittendrin und uns dessen auch bewusst, was auf uns zukommt, und SEW versucht jetzt schon, diese Megatrends zu berücksichtigen. Beispiel: demografischer Wandel. Bei allen digitalen Projekten ist es unser Auftrag, die Menschen mitzunehmen, gedanklich wie prozessual. Hier gilt es, Ängste zu nehmen, Aufklärungsarbeit zu leisten und immer wieder die Vorteile in den Vordergrund zu rücken. Auf den Punkt gebracht: Durch eine Erhöhung der Automatismen soll die Arbeit des Einzelnen unterstützt werden, um sich für zukünftige neue Anforderungen wappnen zu können.
Christian Fries ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Fabrikplanung und Produktionsmanagement am Fraunhofer IPA. Er beschäftigt sich mit Themen aus den Bereichen Supply Chain Management, Logistik, Fabrikplanung sowie Produktionsplanung und -steuerung. Im Interview nähert er sich der agilen Supply Chain aus wissenschaftlicher Perspektive.
Was genau meinen Sie mit Erhöhung der Automatismen?
Angelika Bittner: Aus Beschaffungssicht geht es zum einen um die werkübergreifende Standardisierung und Digitalisierung der Prozesse intern, end-to-end und bereichsübergreifend. Das stellt die Basis für den weiteren Ausbau der Automatisierung der Beschaffungsprozesse dar. Zusätzlich steht für uns im Einkauf der weitere Ausbau weltweit agierender strategischer Partnerschaften mit Zulieferern im Fokus. Damit schaffen wir ein elementares Grundgerüst für automatisierte Abläufe in der Supply Chain. Dafür ist es u. a. notwendig, das Lieferantenmanagement weltweit in der SEW-Gruppe zu vereinheitlichen.
War es bis dato nicht vereinheitlicht?
Angelika Bittner: Bislang erfolgte die Lieferantenperformance-Messung dezentral, in den Einkaufseinheiten der globalen Produktionsstandorte, teilweise nach unterschiedlichen länderspezifischen Parametern. In einem aktuell laufenden globalen Projekt werden nicht nur die KPIs weltweit standardisiert, sondern in diesem Zuge erfolgt auch eine Datenharmonisierung. Damit leisten wir wesentliche Vorarbeiten, um nicht nur ein global ausgereiftes und präventives Risikomanagement zu installieren – im Sinne resilienter Lieferketten, sondern stellen auch die Weichen für die Weiterentwicklung der automatisierten Lieferantenkommunikation weltweit.
Seminar über »Supply Chain Management im turbulenten Umfeld«
Der 21. Stuttgarter PPS-Tag am 12. Oktober 2022 behandelt aktuelle Herausforderungen und Lösungsansätze des Supply Chain Managements mit Blick auf die Planung und Steuerung:
- Wie sollten Unternehmen das Supply Chain Management künftig aufstellen, um wettbewerbsfähig zu bleiben?
- Was macht eine agile Supply Chain aus?
- Welche Potenziale und Risiken birgt die Digitalisierung der Supply Chain?
- Wie können die aktuellen Probleme zukünftig verhindert werden?
- Wie sieht die Aufgabe des Supply-Chain-Managers in Zukunft aus?
Nutzen Sie die Gelegenheit, Ihre individuellen Fragestellungen mit Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft zu diskutieren.
Was uns zum nächsten Megatrend, dem Dauerbrenner Globalisierung, bringt …
Angelika Bittner: Durch die Corona-Pandemie haben wir gesehen, welche Abhängigkeiten zu Ländern wie beispielsweise China bestehen oder wie kurzfristig Lieferketten abreißen, wenn Ländergrenzen von heute auf morgen geschlossen werden. Daran hätte vor ein paar Jahren niemand gedacht. In Zukunft müssen wir uns neu ausrichten, auch im Hinblick auf steigende Transport- oder Energiekosten sowie die Reduktion der CO2-Emissionen. Früher hieß es immer, der Absatzmarkt steuert die Supply Chain. Heute rückt die Beschaffungsseite stärker in den Fokus. Ich sehe darin eine große Chance, aber auch die Notwendigkeit, dass alle Fachbereiche eines Unternehmens noch verzahnter miteinander zusammenarbeiten – unter anderem auch deshalb, weil die Expertise aus dem Einkauf mehr denn je gefragt ist.
Braucht es bei so viel Weitblick überhaupt Unterstützung von Forschungsseite?
Christian Fries: Unabhängig davon, wie gut Unternehmen aufgestellt sind, dienen wir immer als guter Sparringpartner. Ohne uns auf die Schulter zu klopfen, haben wir das in unterschiedlichsten Projekten unter Beweis gestellt und bekommen das auch direkt als Feedback aus dem Markt zurückgespielt. Unsere Aufgabe ist es ja, zum einen neutral die Vogelperspektive einzunehmen, salopp gesagt dem Thema »Betriebsblindheit« entgegenzuwirken, um damit zum anderen neue Sichtweisen und Impulse zu liefern.
Angelika Bittner: Ich kann dem nur zustimmen. Expertise von außen zu bekommen, ist immer gut. Auch wir haben regen Austausch mit anderen Firmen und holen uns Inspirationen. Darüber hinaus arbeiten wir auch mit Institutionen wie dem VDMA oder WBK zusammen, vor allem wenn es darum geht, Leitfäden aufzustellen und Werkzeugkästen für die Industrie zu definieren. Hier sind wir nicht nur Nutznießer, sondern auch Mitgestalter.
Es gibt also immer Stellen, die man optimieren kann?
Christian Fries: Ja, natürlich. Allein im letzten halben Jahr war das Thema Beschaffungsmanagement sehr präsent – auch in unseren Projekten. Unter anderem geht es dabei darum, wie möglichst flexible Einkaufsstrukturen geschaffen werden können und IT- und System-Roadmaps für eine zukunftsorientierte Beschaffung aussehen. Auch in der Forschung beschäftigen wir uns mit ähnlichen Fragestellungen, beispielsweise zum Thema Kreislaufwirtschaft in dem Projekt RESYST. Hier gibt es meines Erachtens noch viel Potenzial.
Es gibt viel zu tun, packen wir es an. Zeit für ein Schlussplädoyer.
Angelika Bittner: Deutschland nimmt eine Pionierrolle ein, steht im globalen Kontext oftmals großen Herausforderungen gegenüber. So wird beispielsweise ab dem Jahr 2023 das Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetz für deutsche Firmen wirksam, was absolut wichtig ist. Wir sind derzeit im entsprechenden Aufbau nachhaltiger Prozesse und in der konsequenten Einbindung dieser in unser Lieferantenmanagement. Nicht in allen Ländern stehen diese Anforderungen jedoch so stark im Vordergrund. So etwas erschwert eine globale Prozessgestaltung. Ganzheitliche Veränderung ist allerdings wichtig und gelingt meines Erachtens nur, wenn wir global Silos aufbrechen und interdisziplinär gemeinsam an pragmatischen Lösungen arbeiten. Nur damit können wir letztlich die Anforderungen erfüllen, wettbewerbsfähig zu bleiben oder gar Wettbewerbsvorteile zu schaffen.
Christian Fries: Am Ende stehen alle Unternehmen vor den gleichen Herausforderungen und Problemen. Zugespitzt formuliert: Je kleiner Unternehmen sind, desto agiler sind sie. Je größer, desto schwerfälliger. Hier gilt es, Hierarchien und Führungsstrukturen aufzubrechen und alle Akteure mitzunehmen. Um zukünftig wettbewerbsfähig zu bleiben, muss man Strukturen anpassen. Einige machen das und sind bereits auf einem guten Weg.
Studie über das Supply Chain Management im Jahr 2040
Autonomer, grüner, komplexer, schneller und flexibler: Forscher vom Fraunhofer IPA haben zusammen mit Unternehmensberatern von Ginkgo Management Consulting in einer Studie
untersucht, wie sich das Supply Chain Management bis zum Jahr 2040 verändern wird.
Die Studie »SCM2040 – Wie verändert sich die Logistik in der Zukunft?« steht kostenlos zum Download zur Verfügung.
Ihr Ansprechpartner
Christian Fries
Mitarbeiter der Gruppe Produktionsplanung und -steuerung
Telefon: +49 711 970-1926