Automatisierungspotenzialen auf der Spur

Roboter montiert Türgriff

Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez

Automatisierungspotenzialen auf der Spur

Viele Unternehmen würden gerne mehr automatisieren und Roboter einsetzen. An welchen Stellen dies technisch und wirtschaftlich sinnvoll ist, ermittelt die »Automatisierungs-Potenzialanalyse« (APA). Eine neue Variante ist nun auch standortübergreifend einsetzbar.

Veröffentlicht am 17.3.2022

Lesezeit ca. 6 Minuten

Automatisierung ist kein Allheilmittel und kein Selbstzweck – aber sie ist im Kontext aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen für viele Unternehmen ein entscheidender Wettbewerbsfaktor geworden. Zu diesen Herausforderungen gehört ein ganzer Strauß an Entwicklungen, auf die mehr Automatisierung eine Antwort sein kann.

Der demographische Wandel bedingt, dass Mitarbeitende auch im höheren Alter mitunter körperlich belastende Aufgaben ausführen müssen. Automatisierung und auch körpergetragene Hebehilfen können hier entlasten. Der Fachkräftemangel macht sich in vielen Branchen bemerkbar und mehr Automatisierung kann helfen, Produktionskapazitäten zu halten oder gar temporär zu steigern. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie beschäftigen sich viele Unternehmen zudem mit dem »Reshoring«, dem Zurückholen von Produktionen an den heimischen Standort. Es braucht weniger manuelle Arbeit, um in einem Hochlohnland wie Deutschland konkurrenzfähig zu bleiben. Und schließlich ist für Produktionen der Trend zur Individualisierung herausfordernd: Individuelle Produkte sollen zum Preis von Massenware gefertigt werden – und am besten sofort verfügbar sein. Ging also früher mit der Automatisierung oft das Schreckgespenst des Arbeitsplatzverlustes einher, so wird sie zunehmend zum Garanten für Wohlstand. Denn selbst steigende Löhne helfen nicht gegen einen leergefegten Arbeitsmarkt.

Systematisch vorgehen

Vieles spricht also für eine Automatisierung – aber an welchen Stellen und für welche Aufgaben ist sie am besten einzusetzen? Das ist nicht immer einfach zu sagen und hängt von der Ausgangssituation des Unternehmens ab. Für die Werkleiter sind dies aber essenzielle Fragen, denn sie müssen regelmäßig eine höhere Produktivität erreichen. Um also eine fundierte Entscheidung über den Einsatz von Automatisierungslösungen treffen und damit zwischen Chancen und Risiken für spezifische Prozesse, beispielsweise in der Montage, abwägen zu können, bedarf es einer strukturierten Vorgehensweise. Das Fraunhofer IPA setzt hierfür einen vierstufigen »Fahrplan« ein.

Er startet mit der Automatisierungs-Potenzialanalyse (APA). Hier werden wirtschaftlich und technisch sinnvoll automatisierbare Prozessschritte ermittelt. Darauf aufbauend konzipieren die Experten vom Fraunhofer IPA eine Lösung, die auch Amortisierungszeiten berücksichtigt und mögliche Umsetzungen zeigt. In der anschließenden Machbarkeitsuntersuchung werden kritische Prozessschritte per Simulation oder Experiment untersucht und abgesichert sowie Fragen der Personensicherheit und »Safety« geklärt. Im vierten Schritt wird die Planung umgesetzt und das Robotersystem realisiert.

Prozesse dokumentieren

Um die Grundlagen für die APA zu ermitteln, nehmen Experten vom Fraunhofer IPA während einer Produktionsbegehung oder virtuell mithilfe digitaler Tools zum Beispiel alle Montageschritte chronologisch auf und dokumentieren die Art der Teilebereitstellung und den Prozess selbst. Dazu gehören die Vereinzelung, Handhabung, Positionierung und der eigentliche Fügeprozess. Jeder dieser Faktoren besteht dann wieder aus einer Sub-Struktur, deren Elemente mit unterschiedlicher Gewichtung in die Berechnung einfließen. Die Positionierung wird beispielsweise in die Kriterien Toleranzen der Zielposition, vorhandene Positionierhilfen, Zugänglichkeit, Fügebewegung, Fügetoleranzen und Haltestabilität untergliedert und jeder Prozess entsprechend bewertet.

Unternehmen können die APA auch selbst mit einer App durchführen, die das Fraunhofer IPA über einen Lizenzvertrag anbietet. Neuerdings bietet das Institut auch einen Demonstrator zu Schulungszwecken an, der auf das eigenständige Durchführen einer APA vorbereitet.

Ganz gleich, wie die APA ausgeführt wurde: Sie generiert für jeden Prozess eine Bewertung bezüglich der Machbarkeit einer Automatisierung. Diese Bewertungen werden in einer Matrix visualisiert und in drei Kategorien mit entsprechenden Handlungsoptionen klassifiziert. Für Roboter einfach auszuführende Prozesse wie »pick & place« und typischerweise in Kombination mit Mehrschichtbetrieb lassen sich mit schnellem Return on Invest mit einer Standardautomatisierung umsetzen. Bei Prozessen, die wirtschaftlich ebenfalls interessant, aber zu speziell sind, bedarf es eines Systemintegrators, der eine individuell passende Automatisierungslösung entwickelt. Und bei technisch bislang nicht automatisierbaren Produkten (zum Beispiel biegeschlaffen oder transparenten Bauteilen) kann, wenn der Endkunde eine Änderung der Bauteile erlaubt, das Bauteildesign im Kontext des »Design for Automation« automatisierungsgerecht verändert und damit der Prozess in den Bereich der Spezialautomatisierung verschoben werden.

Standortübergreifend analysieren

Die APA ist ein Verfahren, das die Mitarbeitenden des Fraunhofer IPA bereits seit Jahren international erfolgreich eingesetzt haben. Beispielsweise kam es bei einem großen Hersteller von Elektrogeräten an allen Standorten weltweit zum Einsatz. Die APA bezieht sich allerdings auf eine Produktionslinie, für die mögliche Automatisierungslösungen systematisch ermittelt werden. Jetzt gibt es noch eine erweiterte Form der APA, die gerade für Unternehmen mit vielen Produktionen interessant ist.

Diese standortübergreifende APA, auch APA-Executive genannt, arbeitet im Gegensatz zur bisherigen Vor-Ort-Analyse eines Produktionsstandortes rein datenbasiert. Mithilfe des Data Mining und klassischen Methoden der Statistik werden Unternehmensdaten wie Produktionsprogramme, Berichte oder SAP-Daten zunächst vergleichbar gemacht und dann analysiert. Weitere Faktoren werden ebenfalls einbezogen, beispielsweise bestehende Key Performance Indicators (KPIs) wie Produktkomplexität, Anzahl der Komponenten eines Produkts, Anzahl der Arbeitsplätze pro Werk, Abschreibungen, Saisonalitäten, stündliche Produktionskosten und auch der Anteil manueller Arbeit. Welche Daten das Unternehmen genau bereitstellen sollte, kann individuell variieren, da nicht immer jede KPI für alle Werke sinnvoll auswertbar ist.

Gesamtpaket nutzen

Liegt diese umfangreiche Datenbasis – ihre Größe kann bis zu mehreren Terrabytes reichen – einmal vollständig analysiert vor, führen die Experten vom Fraunhofer IPA im Folgeschritt Experteninterviews mit Werkleitern durch und diskutieren die Ergebnisse stichprobenartig. Dies ist wichtig, damit die Ergebnisse des Data Mining noch einmal mit den realen Bedingungen vor Ort gespiegelt werden, sodass auch jede KPI wirklich stimmig ist. Als Ergebnis der APA-Executive weiß ein Unternehmen, welche seiner Werke ein generell hohes Automatisierungspotenzial haben. Hier kann dann die klassische APA direkt in der Produktion ausgeführt werden. Mit diesem Gesamtpaket einer zunächst generischeren und dann detaillierten APA erhalten Unternehmen eine fundierte und belastbare Entscheidungsgrundlage, um weitere Schritte in Richtung Automatisierung zu gehen.

Ihr Ansprechpartner

Alexander Neb

Mitarbeiter der Gruppe Montageautomatisierung
Telefon: +49 711 970-1353