Wie die Pandemie die Resilienz in der Produktion stärken kann

Halle auf dem Gelände des Fraunhofer IPA

Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez

Wie die Pandemie die Resilienz in der Produktion stärken kann

Die Corona-Krise hat man am Fraunhofer IPA früh als Chance erkannt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleiteten Unternehmen durch den ersten Lockdown und entwickelten Konzepte für die Zeit danach. Die Resiliente Wertschöpfung ist seither ein neues großes Forschungsfeld.

Lesezeit ca. 7 Minuten

Weitermachen wie bisher? Geht nicht. Der Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 hat gezeigt, wie anfällig unsere Welt für Störungen ist: Innerhalb weniger Wochen breitete sich das Virus auf allen Kontinenten aus. Bilder von todkranken Patienten in überfüllten Kliniken gingen um die Welt. Um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren, wurden auch in Deutschland Hygiene- und Abstandsregeln erlassen, Geschäfte, Schulen und Fabriken geschlossen. Während des ersten Lockdowns im Frühjahr standen vielerorts die Bänder still, an den Grenzen stauten sich die Lastwagen, Lieferketten waren teilweise unterbrochen.

Doch Not macht erfinderisch. Als die Produktion wieder anlief, war vieles, was kurz zuvor noch unmöglich erschienen wäre, Realität: Hygienekonzepte für Angestellte und Zulieferer; Homeoffice für alle Mitarbeitenden, die nicht unbedingt vor Ort gebraucht werden; Videokonferenzen statt Dienstreisen; virtuelle Zusammenarbeit von Forschung und Unternehmen.

Dass die Corona-Krise auch eine Chance ist, haben die Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer IPA frühzeitig erkannt. Sie haben verschiedene Unternehmen während des Lockdowns begleitet und gemeinsam mit ihnen Konzepte für die Zeit danach entwickelt. Gleichzeitig wurden Strategien erarbeitet, wie sich produzierende Unternehmen gegen künftige Krisen wappnen können, indem sie ihre Wertschöpfungsketten resilienter machen.

Resilient wie eine Flechte am Nordpol

Doch was heißt eigentlich Resilienz? Der Begriff leitet sich ab von dem lateinischen Wort resilire, zu Deutsch: zurückspringen oder abprallen. Im psychologischen Sinn beschreibt Resilienz die Fähigkeit, mit Stress oder Schicksalsschlägen zurechtzukommen. Im Ingenieursjargon ist mit Resilienz meist ein Weiterfunktionieren von Technik gemeint, auch wenn Teilsysteme ausfallen.

»Resilienz bedeutet ganz allgemein, dass etwas unter widrigen Umständen gedeiht – wie eine Flechte am Nordpol. Egal was kommt, man ist weiterhin erfolgreich«, erklärt Professor Thomas Bauernhansl, Leiter des Fraunhofer IPA. »Übertragen auf die Produktion heißt das, wir brauchen nach innen Strukturen, die robust sind, und die ich aktiv beeinflussen kann. Gleichzeitig muss ich nach außen reaktiv und agil sein, um auch während einer Krise die Wertschöpfung erfolgreich aufrechtzuerhalten.«

Flechte
Flechten auf einem Fels. (Foto: gunarex - stock.adobe.com)

Mit kreativen Lösungen zum Erfolg

Mitunter braucht man dafür kreative Lösungen: So hat das Team der Abteilung Fabrikplanung und Produktionsmanagement am Fraunhofer IPA beispielsweise zusammen mit dem Automobilzulieferer Kromberg & Schubert ein Konzept für die Wiedereröffnung von 26 Werken an unterschiedlichen Standorten entwickelt: »Das Unternehmen wollte den Betrieb nicht nur möglichst schnell wiederaufnehmen, sondern auch dafür sorgen, dass das Virus nicht in die Werke eindringt«, erinnert sich Abteilungsleiter Michael Lickefett. »Eine besondere Herausforderung war dabei, dass wir nicht, wie gewohnt, vor Ort mit Laptop und Notizblock arbeiten, Interviews führen und unsere Ergebnisse mit dem Kunden diskutieren konnten. Stattdessen saßen wir im Homeoffice und mussten alle Schritte remote durchführen.« Sein Team machte aus der Not eine Tugend und schuf eine virtuelle Kollaborations-Plattform, auf der das Forschungsteam und die Kunden wissenschaftliche Erkenntnisse zum Infektionsschutz, Schichtpläne, Arbeitsplatzbeschreibungen und Daten zum Lieferantenmanagement austauschen und konkrete Maßnahmen erarbeiten konnten.

Resilienz-Forschung: wappnen für die Krise

Die Corona-Pandemie wurde für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Einstieg in ein neues Forschungsgebiet: Untersucht wird, wie sich produzierende Unternehmen mit Hilfe resilienter Wertschöpfungsketten krisenfest machen lassen. Denn Krisen wird es immer geben: Politische Unruhen können den Materialfluss zum Erliegen bringen, Naturkatastrophen die Infrastruktur zerstören, Cyberangriffe und Computerviren die global vernetzten IT-Systeme empfindlich treffen, auch der Ausbruch neuer Pandemien ist denkbar. Für Unternehmen heißt das, sie müssen vorbereitet sein auf das Unvorhersehbare und flexibel genug, um am Ende mit dem New Normal zurechtzukommen.

»Unsere Forschungen konzentrieren sich auf den Umgang mit disruptiven Ereignissen, die plötzlich auftreten. Das unterscheidet sie von kurzfristig auftretenden Störungen aus dem Spektrum der erwartbaren Ereignisse, wie Lieferengpässe und Qualitätsschwankungen, die jedes Unternehmen kennt und managen kann«, erläutert Petra Foith-Förster. Die Leiterin der Gruppe Montageplanung und datengetriebene -optimierung koordiniert das Leit- und Zukunftsthema Resiliente Wertschöpfung am Fraunhofer IPA.

Fünf Handlungsfelder für eine resiliente Produktion

Doch wie macht man eine Produktion resilient und damit krisenfest? Die Forscherinnen und Forscher haben hierfür fünf Handlungsfelder definiert:

  1. Robuste Infrastruktur: Sie sorgt dafür, dass im Notfall die Versorgung mit Strom und Wasser gesichert ist, und dass – falls Computersysteme ausfallen –, ein Backup der IT-Architektur gesichert ist.
  2. Frühzeitiges Erkennen von Krisen: Hier helfen lernende Systeme oder Prozesse. Diese können mit Hilfe Künstlicher Intelligenz Veränderungen schneller aufspüren als der Mensch.
  3. Wandlungsfähige Produktionssysteme: Um schnell auf eine veränderte Nachfrage reagieren zu können, müssen Anlagen rekonfigurierbar und das Gesamtsystem muss skalierbar sein. Im Krisenfall lassen sich so innerhalb kurzer Zeit Stückzahlen erhöhen oder alternative Produkte fertigen.
  4. Eine flexible, agile Organisation erhöht ebenfalls die Resilienz, weil im Krisenfall schnell innovative Geschäftsideen entwickelt und neue Märkte erschlossen werden können.
  5. Souveräne Produktionsnetzwerke geben dem Unternehmen die Kontrolle und Hoheit über die gesamte Lieferkette. Der Aufbau resilienter Supply-Chains bedeutet für viele Unternehmen einen Strategiewechsel: weg vom Outsourcing, hin zu lokalen Ressourcen beziehungsweise verschiedenen alternativen Lieferquellen.
Schaubild Resiliente Wertschöpfung (Grafik: Fraunhofer IPA)

Forschung für die Praxis

Die Praxis zeigt, wie wichtig diese fünf Handlungsfelder bei der Krisenbewältigung sind. So haben Froscherinnen und Forscher am Fraunhofer IPA lernende Systeme entwickelt, mit denen sich Liquiditätsengpässe in einem Unternehmen voraussagen lassen. Mit Hilfe der neuen Algorithmen wurden die realen Wirtschaftsdaten eines mittelständischen Unternehmens – Auftragseingänge, Liquidität, Ausstände, Forderungen – ausgewertet und nach Indikatoren für sich anbahnende Engpässe in der Liquidität durchsucht. Während dieser Auswertung lernte das System kontinuierlich dazu und lieferte immer präzisere Handlungsempfehlungen zur Liquiditätssicherung. Die neuen Algorithmen sollen künftig produzierenden Unternehmen helfen, in Krisenzeiten frühzeitig finanzielle Probleme zu erkennen und rechtzeitig die Produktion anzupassen oder umzustellen.

Wandlungsfähige Produktionsstrukturen erleichtern eine solche Anpassung. Petra Foith-Förster hat mit ihrer Gruppe für Montageplanung und datengetriebene -optimierung untersucht, welche Konzepte sich dafür eignen. Besonders vielversprechend ist ihrer Meinung nach die Matrixproduktion. Bei diesem Ansatz werden Stationen nicht mehr fest in einer Linie verkoppelt und mit einem einheitlichen Takt betrieben, stattdessen wird das Produktionssystem modular, aus frei verketteten Prozessmodulen aufgebaut. Die Prozessmodule können mit einem flexiblen Materialfluss verbunden und frei disponiert werden. Die Flexibilität wird auf diese Weise erhöht. Erst unlängst hat sich die Siemens AG am Standort Karlsruhe für diesen Ansatz entschieden und will nun in ihrer neuen Werksstrategie Matrixproduktion und klassische Lean-Linien kombinieren. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team des Fraunhofer IPA wurden die für die Umsetzung notwendigen Maßnahmen analysiert.

Applikationszentrum Industrie 4.0 auf dem Gelände des Fraunhofer IPA
Quelle: Universität Stuttgart IFF/Fraunhofer IPA, Foto: Rainer Bez, Heike Quosdorf

Lösungen für das New Normal

Entscheidend für den Erfolg ist in Krisenzeiten oftmals Kreativität und Improvisationsgabe. Um Endress+Hauser, einen Hersteller von Messgeräten für die Prozesstechnik, bei der Planung einer neuen Fabrik in Rainach unterstützen zu können, entwickelten die Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer IPA ein virtuelles Kooperationskonzept. Mit dessen Hilfe konnte das gesamte Projekt remote bearbeitet werden. Übrigens wurde extra hierfür am Fraunhofer IPA ein Videokonferenzraum mit allen notwenigen Hard- und Softwaretools sowie einer speziellen Luftreinigungsanlage eingerichtet. In dem Raum können sich bis zu neun Mitarbeitende gleichzeitig aufhalten, während sie über Videokonferenz mit dem Kunden verbunden sind.

Die große Unbekannte: das New Normal

Aufbauend auf ihren Erfahrungen mit virtuellen Kooperationen, wollen die Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer IPA in Zukunft auch neue Dienstleitungen anbieten: »Virtual CoLAB« beispielsweise, eine Weiterentwicklung der Plattform, die ursprünglich für die Zusammenarbeit mit Kromberg & Schubert konzipiert wurde, soll künftig für virtuelle Seminare eingesetzt werden. Die Teilnehmer aus den Unternehmen können sich über diese Plattform untereinander und mit den Expertinnen und Experten am Fraunhofer IPA vernetzen und gemeinsam an Strategien für eine resiliente Produktion arbeiten.

»Virtuelle Angebote werden auch am Ende der Pandemie noch gefragt sein«, davon ist Lickefett überzeugt. »Anders als nach der Wirtschaftskrise 2009, als es für die produzierenden Unternehmen im Großen und Ganzen weiterging wie zuvor, deutet jetzt vieles auf einen umfassenden Wandel hin: Die Führungsstrukturen werden sich verändern, die Digitalisierung wird voranschreiten und damit auch die Notwendigkeit, neue Arbeitsprozesse beziehungsweise technische Lösungen zu entwickeln, man wird außerdem neue Formen der Akquise und des Kundenkontakts brauchen.«

Das Fraunhofer IPA sieht der Abteilungsleiter hier gut aufgestellt: »Mit der Definition der Handlungsfelder für eine resiliente Produktion haben wir eine Basis geschaffen, auf der wir jetzt aufbauen und gemeinsam mit unseren Kunden Strategien entwickeln können für den Umgang mit der Neuen Normalität nach Corona.«

Ihre Ansprechpartner

Dipl.-Ing. Petra Foith-Förster

Koordinatorin Resiliente Wertschöpfung
Telefon: +49 711 970-1978

M.Sc. Brandon Sai

Koordinator Resiliente Wertschöpfung
Telefon: +49 711 970-1918