Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez
Vorgestellt! Ein Tag mit… Markus Böhm
Seine Karriere als Fabrikplaner startete er vor fast zehn Jahren in Island. Heute entwickelt Markus Böhm am Fraunhofer IPA die Wertstromanalyse weiter und überträgt sie ins digitale Zeitalter. »interaktiv« hat den Forscher einen Tag lang begleitet und stellt ihn und seine Arbeit vor.
Veröffentlicht am 05.05.2022
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Zur Fabrikplanung kam Markus Böhm eher durch Zufall. Er war für ein Auslandsjahr nach Reykjavík gekommen, um dort sein Maschinenbau-Studium abzuschließen und erste Erfahrungen im Berufsleben zu sammeln. Am Karlsruher Institut für Technologie hatte sich Böhm zuvor auf Medizintechnik und theoretischen Maschinenbau spezialisiert. Nun prognostizierte er bei einem Unternehmen in der isländischen Hauptstadt anhand von mathematischen Modellen, wie sich die carbonfaserverstärkten Komponenten in personalisierten Beinprothesen unter Belastung verhalten würden.
Doch dann sollte eine ehemalige Lagerhalle umgebaut werden, um darin medizintechnische Produkte montieren zu können. Der Projektverantwortliche fiel aus und Böhm sprang ein. Er bestimmte den Flächenbedarf der einzelnen Montagestationen und wies ihnen Plätze in der Halle zu. Er dirigierte einen Stab von Handwerkern, damit sie die Halle entsprechend seiner Planungen einrichteten. Am Ende betreute er den Hochlauf, um zu beobachten, ob alles reibungslos funktioniert – und leckte dabei offenbar Blut.
Der Ist-Zustand: Wertstromanalyse mit Klemmbrett und Stoppuhr
Böhm ging zurück nach Deutschland und nahm im Dezember 2014 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Fabrikplanung und Produktionsmanagement am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA an. »Ich wollte zurück in die Forschung, meine Doktorarbeit nachholen«, sagt Böhm rückblickend. »Die Mischung aus wissenschaftlicher Arbeit und praktischer Umsetzung in der Industrie reizte mich.«
Podcast über die Digitalisierung der Wertstromanalyse
Wie die Wertstromanalyse ins digitale Zeitalter übertragen wird, erklären Markus Böhm und sein Projektpartner Jörg Drees, Gründer des Stuttgarter Software-Anbieters iFAKT GmbH, in Folge 10 von »Interaktiv – Der Podcast des Fraunhofer IPA«.
Jetzt anhören: https://spoti.fi/3B4ZzLO
Am Fraunhofer IPA werden Fabriken grundsätzlich wertstromorientiert geplant. Das Hauptaugenmerk liegt also auf schlanken Produktionsabläufen und optimaler Flächenauslastung. Wichtigstes Werkzeug ist dabei die Wertstromanalyse. Dabei schreitet ein externer Dienstleister oder eine interne Planungsingenieurin mit Klemmbrett und Stoppuhr sämtliche Stationen der Produktion ab, befragt Mitarbeitende und misst, wie lange welcher Arbeitsschritt dauert. Aus diesen Notizen entsteht dann von Hand eine Gesamtübersicht, die das Zusammenspiel aller Produktionsprozesse auf einem DIN-A3-Blatt darstellt. Denn erst wenn der Ist-Zustand der Produktion bis ins Detail bekannt ist, offenbart sich, an welchen Stellen die Prozesse optimiert werden können.
»In dieser klassischen Ausprägung ist die Wertstromanalyse nichts weiter als eine Momentaufnahme«, gibt Böhm zu bedenken, »und die allermeisten Unternehmen führen sie allenfalls einmal jährlich durch.« Doch das Produktionssystem wandelt sich im Verlauf eines Jahres oft mehrfach: Neue Produkte werden gefertigt, dafür andere Rohstoffe als bisher verarbeitet und vielleicht zusätzliche Maschinen angeschafft. Optimierungspotenziale bleiben also lange unentdeckt.
Der Plan: Wertstromanalyse ins digitale Zeitalter übertragen
Über Sätze wie »Das haben wir schon immer so gemacht« oder »Das haben wir noch nie so gemacht« ärgerte sich Böhm schon während seiner Schulzeit als er in den Sommerferien in einer Schlosserei jobbte. »Warum hält man an überkommenen Strukturen fest, wenn es doch offensichtlich ist, dass es besser geht?«, fragt er. Die klassische Wertstromanalyse ist in modernen Produktionssystemen für ihn eine überkommene Struktur. Sie läuft seit über 40 Jahren gleich ab und ist bis heute zutiefst analog. Böhm will sie ins digitale Zeitalter übertragen. Die Wertströme in einer Fabrik möchte er künftig kontinuierlich analysieren und dabei die Produktionsdaten aus dem Manufacturing Execution System (MES) und dem Enterprise Resource Planning (ERP) auswerten.
Allerdings sind solche Datenbanken oft ungenau oder unvollständig. Es fehlen also Daten, die für die Wertstromanalyse wichtig sind. Also wertet Böhm zusätzlich auch Maschinendaten aus – und kämpft mit heterogenen Schnittstellen: inkompatible Hardware, herstellerspezifische Programmiersprachen, unterschiedliche Dateiformate. In vielen Fällen sind die Maschinen auch so aufgebaut, dass nur der Hersteller Zugriff auf die Daten hat.
Böhm kommt also oft gar nicht an die Maschinendaten ran oder kann sie nicht auslesen. Also beschafft er sie sich auf anderem Wege: über Sensoren. Böhms Forschungsteam klebt beispielsweise Ortungssensoren an Kleinladungsträger und kann dann in Echtzeit mitverfolgen, welche Stationen ein Kundenauftrag in der Montage durchläuft und wie lange er dort bearbeitet wird.
Das Ziel: Wertstromanalyse soll Arbeitsbedingungen erfassen
Den konzeptionellen Teil seiner Arbeit und das Programmieren erledigt Böhm in seinem Büro in Stuttgart oder im Homeoffice. Für den praktischen Teil reist er regelmäßig nach Wien. Dort nutzt er gemeinsam mit Kollegen von Fraunhofer Austria – einem Tochterunternehmen des Fraunhofer IPA – die Pilotfabrik der Technischen Universität. Zusammen mit den Kollegen aus Wien und Stuttgart möchte Böhm die Installationsgeschwindigkeit seiner digitalen Wertstromanalyse erhöhen und größere Datenmengen als bisher auswerten. So möchten die Forscherinnen und Forscher künftig auch die Arbeitsbedingungen in der Montage erfassen. Denn auch ungünstige Lichtverhältnisse oder Lärm wirken sich negativ auf die Produktivität aus.
Mit seinen eigenen Arbeitsbedingungen scheint Böhm aber sehr zufrieden zu sein. Denn Fraunhofer Austria hat seinen Sitz in der Wiener Innenstadt unweit von Schloss Belvedere. »Das ist da, wo andere Urlaub machen«, findet Böhm. Manchmal fliegt er freitagabends nicht wieder zurück nach Stuttgart, sondern hängt das Wochenende dran und erkundet Wien.
Seine eigentliche Leidenschaft ist aber das Bergwandern. Böhm liebt hohe Berge und nimmt dafür weite Reisen gerne in Kauf. Er hat schon den Kibo in Tansania zu Fuß erkundet und auch den Großen Kaukasus in Russland. Vielleicht rührt seine Vorliebe für Hochgebirge daher, dass Böhm aus dem Unterallgäu stammt und er in seiner Kindheit und Jugend an klaren Tagen die Alpen am Horizont sehen konnte. Zum Joggen ist ihm das »schwäbische Flachland«, wie er es nennt, aber gerade gut genug.
Ihr Ansprechpartner
Dipl.-Ing. Markus Böhm
Mitarbeiter der Gruppe Fabrikplanung und Wertstromdesign
Telefon: +49 711 970-1968