Gesunde Paranoia

Portrait Peter Kreuz

Foto: Lydia Jonas

Gesunde Paranoia

Misstrauen Sie alten Erfolgen! Was Sie bis hierher gebracht hat, wird Sie nicht in die Zukunft bringen. Üben Sie sich im Loslassen von Dogmen und altgedienten Überzeugungen. Ehren Sie die Vergangenheit, indem Sie sie hinter sich lassen, schreibt Bestsellerautor Peter Kreuz in einem Gastkommentar.

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Als der Rapper Will.i.am auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gefragt wurde, was man von der Musikbranche lernen könnte, war seine Antwort: »Meine Lektion ist: Euer Platz ist nicht garantiert«! Zack – mit dieser Aussage hat er mitten ins Schwarze getroffen.

Natürlich hat es sich mittlerweile herumgesprochen, dass es in vielen Branchen neue Wettbewerber gibt, die für die Platz­hirsche gefährlich sind, weil sie mit ihren digitalen Geschäfts­modellen bestehende Wertschöpfungsketten von Grund auf verändern. Trotzdem fällt die Digitale Transformation der eigenen Organisation in vielen Fällen so schwer, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, Geld zu verdienen, wie man es immer getan hat. Sich selbst zu kannibalisieren ist schlicht undenkbar. Man sieht vorrangig das Risiko. Man denkt nicht radikal genug. Man zögert, sich vom Alten zu trennen und sich in Neues hineinzubewegen. Weil es die gegenwärtigen Gewinne bedroht.

Das Boot versenken oder das Boot verpassen

Die beiden Marketingprofessoren Peter Dickson und Joseph Giglierano skizzieren in diesem Zusammenhang ein sehr kluges und starkes Bild: Sie argumentieren, dass Führungskräfte und Unternehmer zwei unterschiedlichen Arten von Risiken ausgesetzt sind.

  • Das erste Risiko nennen sie »das Risiko, das Boot zu versenken«. Das könnte passieren, wenn eine Organisation einen mutigen Schritt macht, der sich als kolossaler Fehltritt herausstellt. Mit diesem Risiko umzugehen, darin sind die meisten Organisationen sehr gut. Dafür gibt es detaillierte Business-Pläne, Marktforschung und Risikoabschätzungen.
  • Genau das aber bringt uns zum zweiten Risiko: Viele Organisationen sind so sehr mit dem Vermeiden von Risiken beschäftigt, dass sie schlicht und ergreifend fast jeden mutigen Schritt verhindern. Das führt zur Erstarrung und zum Innovationsstau und dazu, dass sie im Markt den Anschluss verlieren. Dickson und Giglierano nennen das »das Risiko, das Boot zu verpassen«.

Dieses großartige Bild macht deutlich, dass eine defensive Risikovermeidung keineswegs am Ende zu einem niedrigeren Risiko führt, sondern nur eine Verschiebung des Risikos auf eine andere Ebene nach sich zieht.

Unternehmen, die zu sehr mit dem Absichern des Status quo beschäftigt sind, wiegen sich in einer trügerischen Sicherheit. Je sicherer sie sich sind, dass sie das Boot nicht versenken werden, desto mehr übersehen sie das Risiko, das Boot zu verpassen.

Gesunde Paranoia!

Es geht also darum, das neue Boot rechtzeitig zu erwischen, ohne das alte zu versenken! Dazu brauchen Veränderer eine wichtige Zutat, nämlich eine gesunde Paranoia. Damit ist ge­meint, trotz gegenwärtigem Erfolg sich nicht entspannt zurückzulehnen, sondern konstant nach möglichen neuen Wettbe­werbern Ausschau zu halten. Bei Google gilt deshalb der Satz: »Die nächste Suchmaschine ist nur einen Klick entfernt«. In Mountain View weiß niemand, wie der Newcomer aussehen könnte. Aber der Gedanke, dass irgendwer irgendwo auf der Welt an einer neuen Suchmaschine arbeitet, hält die Teams bei Google auf den Zehenspitzen.

Was lässt sich daraus lernen?

Misstrauen Sie alten Erfolgen! Was Sie bis hierher gebracht hat, wird Sie nicht in die Zukunft bringen. Üben Sie sich im Loslassen von Dogmen und altgedienten Überzeugungen. Lassen Sie die Vergangenheit los, damit Neues entstehen kann.

Genau deshalb ist es so wichtig, Beharrungsenergien zu entlarven und Veränderungswillen anzufeuern – nicht als Selbstzweck, sondern um Wachsamkeit und Dauerskepsis am Weiter-so zu ermutigen.

Wie das gelingt? Indem Führungskräfte ihren Störauftrag an­nehmen. Dazu gehört, all die »Das-geht-so-nicht«-Sprüche und die »Das-haben-wir-immer-so-gemacht«-Phrasen auf die schwarze Liste zu setzen und angestammte Routinen regelmäßig infrage zu stellen.

Das Ziel: Die Organisation veränderungsbereit zu machen und zu halten

Führungskräfte haben eine Art Weckfunktion, die die Wachsamkeit überall in der Organisation stärkt und die alten, ge­wohnheitsmäßig einrastenden Routinen, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben, aufbricht.

Wie lässt sich das umsetzen? Mit Aktionen, mit denen nicht jeder rechnen kann und die die Organisation mit frischem Wind versorgen – die aber gleichzeitig noch handhabbar sind. Denn die Wirkung dieser Störungen ist zweischneidig: Eine­r­seits bringen sie Veränderungen, ohne die keine Entwick­lung und kein Wachstum möglich ist. Andererseits sind Stö­rungen des normalen Betriebs alles andere als effizient, denn sie be­einträchtigen Prozesse, die bis dahin – zumindest ganz angemessen – funktioniert haben.

Wenn es um die Maximierung der kurzfristigen Gewinne geht, sind Störungen also Gift. Und deshalb sind sie insbesondere in Unternehmen, in denen das kurzfristige Quartalsdenken regiert, extrem unbeliebt. Obwohl das Management insgeheim weiß, dass das bewusste Hinterfragen von bewährten Erfolgs­rezep­ten auf die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens einzahlt, belässt man es dennoch gern beim rhetorischen Aufbruch zu neuen Ufern. Das ist die Krux an der Sache: Störungen kosten Zeit, Geld und Energie – und bringen kurzfristig Unruhe. Sie erhöhen die langfristige Effektivität auf Kosten der kurzfristigen Effizienz.

Daher müssen störungswillige Führungskräfte klug ausbalancieren zwischen den Einzahlungen auf das Zukunftskonto und den Abhebungen vom Gegenwartskonto des Tagesgeschäfts. Eben beides, sowohl als auch, in einem ausgewogenen Ver­hältnis! Kein plattes Entweder-oder, sondern ein intelligentes Sowohl-als-auch.

Peter Kreuz ist Unternehmer, Spiegel-Bestsellerautor und Gründer von »Rebels at Work«. Leidenschaftlich gern unterstützt er Führungskräfte und ihre Teams dabei, in einem Umfeld der Disruption, Digi­talisierung und tiefgreifenden Ver­änderung erfolgreich zu navigieren.

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