Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez
Intelligente digitale Ökosysteme in der Wolke
Im Forschungsprojekt »Cloud Mall Baden-Württemberg« hat ein Forschungsteam des Fraunhofer IPA mit kleinen und mitteständischen Unternehmen zahlreiche neue Cloud-basierte Produkte, Services und Geschäftsmodelle entwickelt. Die wichtigsten Erkenntnisse fasst nun eine kostenlose Studie zusammen.
Die EU arbeitet an einem Fahrplan für die nächste Generation des Internets mit dem Schwerpunkt Cloud-Computing. Ziel ist es, die europäische Cloud-Branche bis 2025 weltweit für ihre technologische Führerschaft, Wettbewerbsfähigkeit und Interoperabilität bekannt zu machen und Standards zu setzen. Ein ähnliches Ziel verfolgt die baden-württembergische Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Nicole Hoffmeister-Kraut. Sie fördert die Entwicklung neuartiger Cloud-Lösungen speziell in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU).
Ihr Ministerium hat zu diesem Zweck das Projekt »Cloud Mall Baden-Württemberg« (Cloud Mall BW) ins Leben gerufen und mit insgesamt 6,4 Millionen Euro gefördert. Das Projekt ist bereits am 1. November 2018 angelaufen. Darin erkundeten Partnerinnen und Partner aus Forschung und Industrie gemeinsam die Möglichkeiten und Potenziale des Cloud-Computings und schöpften sie in Unterprojekten, sogenannten Praxispiloten, aus. Dazu sind kleine und mittelständische Cloud-Serviceanbieter und -anwender aus Baden-Württemberg unter wissenschaftlicher Anleitung eine Kooperation eingegangen, entwickelten ihre Ideen weiter und erarbeiteten sich so Wettbewerbsvorteile.
Ökosystem für effektive Dateninteroperabilität
So vernetzten sich unter der Leitung des Fraunhofer IPA fünf Unternehmen zu einem komplexen Ökosystem, das beispielhaft ein Wertschöpfungsnetzwerk nachbildet. Das Ökosystem basiert auf der Idee einer mehrdimensionalen Integration von Digitalen Zwillingen. Digitale Zwillinge bilden die Realität in einer Produktion möglichst vollständig virtuell und in Echtzeit ab. So ermöglichen sie eine nahtlose Konnektivität und Flexibilität über verschiedene Bereiche eines Unternehmens hinweg.
Die Idee kam von der Virtual Fort Knox AG aus Heidelberg. Das Fraunhofer IPA stellte daraufhin die gleichnamige flexible Research-Cloud-Plattform für Industrie-4.0-Anwendungen als Testbed zur Verfügung. Sie ermöglichte es allen Beteiligten einfach und schnell digital zu kommunizieren. Darauf aufbauend schuf die Karlsruher AUNOVIS GmbH einen Cloud-basierten Service zur Modellierung der Digitalen Zwillinge. Dieser schließt auch nicht-physische Objekte wie Aufträge oder Produktionslinien mit ein und versorgt die Digitalen Zwillinge laufend mit Echtzeitdaten. In Zusammenarbeit mit der Lexer RESEARCH GmbH aus Baden-Baden kam eine Simulation von Produktionsabläufen hinzu. Sie wird in Echtzeit mit Daten gespeist, um die Produktionsabläufe künftig immer präziser planen zu können. Die Karlsruher NOVAZOON GmbH ergänzte das Ökosystem dann noch um eine Robotic Prozess Automation, die wiederkehrende manuelle Tätigkeiten automatisiert. Schließlich erfolgte in Kooperation mit der incontext.technology GmbH aus Heidelberg der Einsatz zur Kopplung und Nutzung bestehender mehrdimensionaler Digitaler Zwillinge zur Datenauswertung im Produktionsumfeld mit unterschiedlichen Methoden der Künstlichen Intelligenz.
Produktionsplanung schnell an neue Gegebenheiten anpassen
In einem weiteren Praxispilot ist es einem Forschungsteam vom Fraunhofer IPA gemeinsam mit Fachleuten zweier Start-ups gelungen, ein effektives, genau auf die Kundenbedürfnisse zugeschnittenes Planungswerkzeug für Produktionslinien zu entwickeln. Es spielt Werksplanerinnen und -planern tagesgenaue Fertigungszeiten für jedes Produkt aus, die die Vorgaben aus dem Vertrieb unter minimalen Kosten erfüllen. Sollte die Vertriebsplanung nicht erfüllbar sein oder Unwägbarkeiten enthalten, gibt das System sofort Rückmeldung. Die Produktionsplanung kann so in kürzerer Zeit, mit weniger Aufwand und deutlich mehr Sicherheit als bisher über einen beliebigen Zeithorizont hinweg gesteuert werden.
Dazu hat Wissenschaftlerin Olga Meyer vom Kompetenzzentrum DigITools am Fraunhofer IPA zwei Start-ups zusammengebracht und sie in dem Praxispiloten zur Integration ihrer beiden Leistungsangebote fachlich unterstützt. Die Tsunuun Consulting GmbH aus Heidelberg hat eine mathematische Anwendung entwickelt, mit deren Hilfe produzierende Unternehmen schnell und flexibel auf sich ändernde Rahmenbedingungen in der Werksplanung und im -controlling reagieren können. Diese Software wird nun über den Online-Marktplatz der Mannheimer Q-nnect AG angeboten und lässt sich dort mit anderen Cloud-basierten Anwendungen kombinieren.
Cloud-basierte Software macht Unternehmen energieeffizient
In einem anderen Praxispilot von Cloud Mall BW hat Meyer zusammen mit zwei Software-Herstellern an einer energieoptimierten Produktionsplanung, der sogenannten »GREEN Factory«, gearbeitet. Die Anwendung wertet den aktuellen und bisherigen Energieverbrauch im Unternehmen aus und nutzt Strompreis- und Wettervorhersagen für Energie- und Auslastungsprognosen. Durch die kontinuierliche Überwachung und genaue Messung der Produktionsfaktoren werden Schwachstellen und Optimierungspotenziale sowohl im Energieverbrauch als auch bei der Schadstoffreduzierung identifiziert und geeignete Energieeffizienzmaßnahmen systemseitig vorgeschlagen.
Herzstück dieser neuen Anwendung ist eine Kombination zweier Cloud-basierter Services: das Enterprise-Resource-Planning-System (ERP-System) der KUMAVISION AG aus Marktdorf und der Energiemanagementservice der Konstanzer in-integrierte informationssysteme GmbH. Als Testumgebung diente eine Modellfabrik, die simulierte Daten bereitstellte und die Verknüpfung zwischen ERP und Produktionsebene ermöglichte.
Praxispiloten decken zahlreiche Branchen ab
Insgesamt hat das Forschungsteam um Meyer vom Kompetenzzentrum DigITools am Fraunhofer IPA zehn Praxispiloten wissenschaftlich und technisch betreut. 23 weitere haben die Expertinnen und Experten der anderen Projektpartner übernommen: das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, das Institut für Enterprise Systems (InES) der Universität Mannheim und die bwcon research GmbH. Unterauftragnehmer waren Trusted Cloud und das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart. Insgesamt waren 72 kleine und mittelständische Unternehmen an Cloud Mall BW beteiligt, die allermeisten aus Baden-Württemberg.
Die Themen und Anwendungsfelder der Praxispiloten decken zahlreiche Branchen ab – von der Produktion über den Handel und die Energieversorgung bis hin zu smarten Produkten und Dienstleistungen. Sie dienen damit als Blaupause für digitale Innovationen durch Kooperation.
Entstanden sind im Forschungsprojekt Cloud Mall BW aber nicht nur neue Produkte, Services und Geschäftsmodelle, sondern auch ein digitales Ökosystem aus kooperierenden Start-ups und etablierten mittelständischen Unternehmen. Für die beteiligten Forscherinnen und Forscher bot Cloud Mall BW zudem einen wissenschaftlichen Rahmen, um die Erfolgsfaktoren von Kooperationen in der Praxis zu überprüfen. Das Forschungsteam hat auf alle 33 Praxispiloten ein Bewertungsmodell für wesentliche Erfolgsfaktoren bei Kooperations- und Integrationsprojekten angewandt und Schlüsse zur Rolle von Kooperationskultur und -modellen, Geschäftsmodellinnovationen sowie der Nutzung von Plattformen und Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz gezogen. Ihre Ergebnisse haben sie kürzlich in einer frei verfügbaren Studie zusammengefasst und veröffentlicht.
Ergänzendes Forschungsprojekt beleuchtet digitale Daten- und Service-Ökosysteme
Wie KMU aus Baden-Württemberg die Marktchancen aktueller Frameworks wie das Daten- und Serviceökosystem GAIA-X nutzen und sich für die Zukunft erfolgreich positionieren können, wird derzeit in einem ergänzenden Projekt erforscht. Die bisherigen Kooperationspartner von Cloud Mall BW haben zu diesem Zweck das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST als strategischen Partner gewonnen. In dem gemeinsamen Forschungsprojekt werden die aktuellen Aktivitäten und Frameworks ausgewählter Ökosysteme, wie etwa GAIA-X, wissenschaftlich analysiert und die Erkenntnisse anhand weiterer Praxispiloten evaluiert. Interessierte Unternehmen können sich an das Konsortium wenden.
Cloud Mall BW ist beendet – und geht trotzdem weiter
Offiziell ist Cloud Mall BW am 30. Juni 2021 zu Ende gegangen, doch die erarbeiteten Ergebnisse werden weiterhin angeboten. Im Rahmen eines Interessensbekundungsverfahrens wurden dafür die bwcon GmbH und die STROMDAO GmbH als neue Betreiber der Kooperationsplattform Cloud Mall BW ausgewählt. Sie wollen die Ziele von Cloud Mall BW weiterführen und ausbauen.
Ihre Ansprechpartnerin
Olga Meyer
Forschungsteamleiterin Interoperabilität für die Produktion
Telefon: +49 711 970-1068