Quelle: Bosch Rexroth
Fachkräfte im Qualitätsmanagement kooperieren mit Künstlicher Intelligenz
In einem gemeinsamen Projekt haben Mitarbeiter von Bosch Rexroth und dem Fraunhofer IPA ein KI-System entwickelt, welches das bisher aufwendige Erfassen und Analysieren von Reklamationsdaten automatisiert.
Veröffentlicht am 14.04.2022
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Künstliche Intelligenz (KI) ist auf dem Vormarsch und wird im industriellen Kontext zunehmend eingesetzt, um den Wertschöpfungsprozess zu verbessern oder neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Im Qualitätsmanagement (QM) sind KI-Systeme hingegen noch selten zu finden. Welche Mehrwerte KI hier bieten kann, zeigt ein Kooperationsprojekt, bei dem Mitarbeiter der Bosch Rexroth AG und des Fraunhofer IPA ein lernendes KI-System entwickelt und prototypisch umgesetzt haben. Es analysiert beziehungsweise kategorisiert unter Einbezug der Normen ISO 9001 und IATF 16949 maschinell und in hoher Geschwindigkeit Reklamationsdaten, die im Reparaturprozess dokumentiert werden. So macht das System den Produktverbesserungsprozess schneller, präziser und nachhaltiger. Das Ergebnis ist eine detaillierte Angabe zum Verbesserungspotenzial der Rexroth-Produkte, die die Produktentwicklungsteams aufgreifen und im Sinne der Kundschaft umsetzen können.
Hohe Pflegeaufwände
Reparaturdaten sind eine wichtige Informationsquelle für Verbesserungsmaßnahmen, die frühzeitig erkannt und deshalb kontinuierlich und systematisch erfasst werden sollten. Sie erfordern allerdings ein hohes Maß an Erfahrungswissen der Qualitätsingenieure, um aus den Rückmeldungen des Personals der Servicedienste geeignete Fehlerklassen und Maßnahmen abzuleiten. KI kann hier eine Schlüsselrolle einnehmen.
Fehlerorte sind die Ausgangslage für zukünftige Verbesserungen. Ein klassischer Ansatz im Qualitätsmanagement ist, diese Fehlerorte entlang von Standards oder Fehlerkatalogen zu definieren. Weil diese Klassifizierung besonderes Routinewissen erfordert und der Gesamtprozess sehr aufwendig ist, ist die Herangehensweise suboptimal. Eine der herausforderndsten Aufgaben ist, dem Fehler eine Ursache zuzuschreiben. Wird die Fehlerursache fälschlicherweise externen Akteuren zugeordnet, so verpasst das Unternehmen die Chance, die eigenen Produkte zu verbessern und wettbewerbsfähig beziehungsweise attraktiv zu halten.
Wird der Pflegeaufwand nicht geleistet, nimmt die Güte der Klassifizierung ab und passt recht schnell nicht mehr zu den Anforderungen, die das Produktportfolio an den Katalog stellt. Dies ist aus Sicht des Qualitätsmanagements inakzeptabel. Deshalb wollte Bosch Rexroth neue Wege erforschen, um den Aufwand für die Auswertung in Grenzen zu halten und dort, wo es möglich ist, objektivere Auswertungen zu erhalten. Mit dem Fraunhofer IPA konnte für das Vorhaben ein Forschungspartner gewonnen werden, der sowohl in der Methodik als auch in der Anwendung von KI-Systemen zum maschinellen Lernen auf umfassende Erfahrung zurückgreifen kann.
Maschinelles Lernen für die Verarbeitung von Reparaturdaten
Die dortigen Experten der Abteilung Cyber Cognitive Intelligence (CCI) und der Gruppe Qualitäts- und Zuverlässigkeitsmanagement sowie des Industrie-4.0-Innovationsteams des Qualitätsmanagements der Bosch Rexroth Montagetechnik führten zunächst eine Voruntersuchung anhand eines exemplarischen Datensatzes durch. Diese zeigte, dass die Qualität der Daten sowie deren Struktur und Quantität eine vielversprechende Basis für ein KI-System sind, das auf maschinellem Lernen basiert. Darauf aufbauend wurde die Rexroth Schraubtechnik in Murrhardt als Forschungsbeispiel ausgewählt und das Konzept des »aktiven Lernens von Klassifikatoren zur Verarbeitung von Reparaturdaten« entwickelt.
Die Reparaturdaten, auf die das Forschungsteam zugreifen konnte, bestehen aus überwiegend ähnlichen, jedoch nicht standardisierten Freitexteinträgen einer Kategorie, die Fachkräfte in den Servicewerkstätten anlegen. Bei jedem Reparaturvorgang dokumentieren sie Art, Ort und Ursache des Fehlers sowie zusätzliche Informationen, die keiner der voran genannten Kategorien entsprechen.
Für das maschinelle Verarbeiten von unstrukturierten Texten gibt es eine Vielzahl wissenschaftlich validierter Ansätze. Diese Verfahren machen den Text rechnerlesbar, indem sie beispielsweise Füllwörter entfernen und den Text auf seine Essenz reduzieren. Anschließend wird die Position eines Wortes in einem Satz in einen Vektor überführt. Aus der resultierenden Matrix lässt sich der Satz jederzeit wieder reproduzieren.
Alle rechnerlesbaren Texte zu einem Reparaturfall bilden einen Datensatz, den das KI-System nun klassifizieren kann. Der Datensatz wird zunächst in einen Trainingsdatensatz und einen Testdatensatz aufgespalten. Mit dem Trainingsdatensatz wird der gewählte Klassifikator initialisiert und anschließend ein Klassifizierungsmodell errechnet, anhand dessen dann für nicht-klassifizierte Daten eine Prognose getroffen werden kann, in welche Kategorie sie fallen. Die ermittelte Prognose ist nie zu 100 Prozent richtig. Vielmehr wird ein Datensatz mehrfach durchgerechnet, um die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Klassifizierung zu steigern. Daher bedarf es eines Stopp-Kriteriums, um festzulegen, wann eine ausreichende Klassifizierungsgüte erreicht ist. Um eine ausreichend genaue Klassifizierung schnell genug erreichen zu können, ist die Wahl des richtigen Klassifikators ein entscheidender Faktor. Die Fraunhofer-Forscher des CCI konnten hier mit ihrer Expertise entscheidend zur Effizienz das Systems beitragen.
Herausforderungen gegenüber klassischen Klassifizierungssystemen
Das hier vorgestellte KI-System punktet insbesondere in zwei Herausforderungen gegenüber klassischen Klassifizierungsstrategien. Normalerweise ist ein Modell dann besonders leistungsfähig, wenn es auf der Grundlage von vielen und hochqualitativen Daten generiert wurde, was aber wiederum sehr aufwendig ist. Das neue KI-System besteht aus zwei Klassifikationsschleifen: Im ersten sogenannten »active learning loop« wird das Gesamtmodell anhand aller Datensätze, also auch der bewerteten Klassifizierungen der Vergangenheit, errechnet und dann ein besonderer Schritt gewählt: Mithilfe eines Rangsystems, das auf dem active learning loop basiert, werden besonders informative Datensätze und diejenigen mit hoher Entropie als sogenannte »core data« herausgefiltert. Es konnte nachgewiesen werden, dass eine zweite Klassifikationsschleife (»passive learning loop«), deren Modell ausschließlich mit den core data errechnet wurde, sehr adäquate Klassifizierungsergebnisse liefert. Die neuen Datensätze der Monatsauswertung werden dann direkt durch das Modell des passive learning loop prognostiziert, was enorme Zeiteinsparungen bringt.
Die zweite Herausforderung, die der neue Ansatz der core data adressiert, ist die Unterrepräsentation von neuartigen Datensätzen. Wird die geforderte Klassifizierungsgüte nicht erreicht, so wird der Datensatz sowohl im active learning loop als auch im passive learning loop ausgeschleust, damit die Fachkraft ihn beurteilen kann. Dies kann zeitunabhängig vom KI-System erfolgen. Auf diese Weise steuert die KI nicht den Menschen, sondern der Mensch die KI.
Evaluation der Entwicklung
Für die Evaluation wurden vier repräsentative Produktgruppen der Bosch Rexroth Schraubtechnik aus den Kategorien »Produktkomplexität«, »Produktvarianz«, »Stückzahl im Feld« und »Einsatzspektrum« ausgewählt, zu denen Reklamationen vorlagen. Als Testzeitraum wurden die Reklamationsdaten von zwei Auswertungsmonaten betrachtet, die die Qualitätsingenieure noch nicht bearbeitet hatten, um keine verfälschenden Einflüsse auf die Auswertungsergebnisse zu erhalten. Dabei wurden jedoch lediglich diejenigen Reklamationen herausgefiltert, bei denen die reklamierten Produkte nicht älter als fünf Jahre sind. Für das Training des Active-Loop-Modells konnte auf bereits bewertete Datensätze von mehr als zehn zurückliegenden Jahren zurückgegriffen werden.
Als Bewertungsreferenz dienten in diesem Projekt ein Qualitätsingenieur mit mehr als zehnjähriger Auswertungspraxis und vier weitere Personen mit nur wenig bis keiner Erfahrung in der Klassifizierung von Reparaturdaten. Bewertet wurde sowohl im manuellen Durchlauf als auch bei der Anwendung des KI-Systems in den Kategorien »Anzahl durchgeführter Bewertungen«, »Bewertungsdauer in Minuten«, »Anzahl korrekter Bewertungen«, »Güte/Genauigkeit der Bewertung«. Um gleiche Voraussetzungen zu schaffen, erhielten alle vier Personen vor der Evaluation eine Grundschulung zur manuellen Klassifizierung und zum Umgang mit der Benutzeroberfläche des KI-Systems. Anschließend wurde zunächst die manuelle Klassifizierung durchgeführt und mit ein paar Tagen Abstand dann die Vergleichsbewertung mit Unterstützung des KI-Systems vorgenommen.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich der Auswertungsprozess in jedem Fall verbessert. Der Grad der Verbesserung variiert dabei lediglich je nach bereits vorherigem Kenntnisstand der Personen. Da die manuelle Bewertung der KI nachgelagert ist, gleicht das KI-System einen manuellen Bewertungsfehler nicht aus. Durch die umfassende Reduktion der Bewertungsfehler in dem vorangegangenen Prozess ist dieses Risiko jedoch insgesamt deutlich geringer als im herkömmlichen Verfahren.
Ausblick
Der größte Nutzen dieses Projekts liegt darin, die Bewertungszeiten signifikant zu reduzieren und somit die frei werdende Kapazität der Fachkräfte wieder der nachhaltigen Problemlösung und nicht der Auswertung zu widmen. Dies kommt direkt der Kundschaft zugute. Zudem wurde das KI-System mithilfe des »Konstanzer Information Miners« (KNIME) umgesetzt und ist somit strukturell auch von Personen ohne KI-Expertenwissen wart- und anpassbar. KNIME ist ein frei verfügbares Werkzeug für die interaktive Datenanalyse und verfügt bereits in der Grundausstattung über die Fähigkeit, Datensätze zu klassifizieren. In der Bedienungsergonomie noch etwas eingeschränkt ist die Nutzeroberfläche, die in weiteren Entwicklungsschritten optimiert wird.
Im Rahmen dieses Projekts wurden lediglich die vier oben genannten Produktlinien unterstützt. Da bereits in der Konzeptphase auf eine Skalierbarkeit und eine Übertragbarkeit auf völlig andere Produktspektren geachtet wurde, wird die Analysefähigkeit im nächsten Schritt zunächst auf das gesamte Produktspektrum der Rexroth Schraubtechnik ausgedehnt und anschließend in einen völlig anderen Produktbereich transferiert.
Ihre Ansprechpartner
Christoph Hennebold
Mitarbeiter des Forschungsteams Effiziente Lern- und Optimierungsverfahren
Telefon: +49 711 970-1963
Oliver Mannuß
Forschungsteamleiter Nachhaltige Produkt- und Prozessentwicklung
Telefon: +49 711 970-1834