Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez
»Nach der Orientierung kommt die Fokussierung«
Wer als Champion aus der Digitalen Transformation hervorgehen will, muss am Ball bleiben und die Menschen mitnehmen, resümierten Stefan Aßmann und Thomas Bauernhansl im Sommer 2018. Drei Jahre nach dem Start der zweiten Lernreise Industrie 4.0 live blicken die beiden Schirmherren auf das aktuelle Geschehen, geben Ein- und Ausblicke.
Gleich zu Beginn der Vergleich: Wie fällt Ihr Resümee aus – erste vs. zweite Lernreise Industrie 4.0 live?
Stefan Aßmann: Es war definitiv eine unerwartet andere Lernreise. Mit Corona hat ja niemand gerechnet. Als die Pandemie losging, war es schade, dass viele Termine ausfielen oder verschoben wurden. Aber dann war ich überrascht, wie gut die neuen virtuellen Formate funktionierten. Ich war per Video zugeschaltet und hatte das Gefühl, direkt vor Ort zu sein. In Maschinen wurde reingezoomt und man war näher dran, als das oft in Präsenz möglich ist.
Thomas Bauernhansl: Die zweite Lernreise war ja auch thematisch spezifischer. Bei der ersten Lernreise verschafften sich die teilnehmenden Unternehmen einen Überblick über gesamtheitliche Transformationskonzepte. In der zweiten Reise ging es eher um spezifische Lösungen, ums Detail. Akribie war gefragt. Die konnte man gut in digitale Lern- und Besuchsformate packen.
Wissenstransfer für Praktiker
Um Unternehmen bei der Umsetzung der vierten industriellen Revolution zu unterstützen, hat das Macils Management Centrum unter Schirmherrschaft der Robert Bosch GmbH und des Fraunhofer IPA im Juli 2016 die erste Lernreise Industrie 4.0 live ins Leben gerufen. Innerhalb von zwei Jahren besuchten Vertreter von 30 Mitgliedsfirmen zwölf Industrie-4.0-Vorreiter und konnten sich dort praktische Inspiration für die eigene Organisation holen. Des Weiteren gab es die Möglichkeit, Coaching- und Trainingstage zu buchen und an Transferworkshops teilzunehmen.
Im September 2018 startete die zweite Lernreise Industrie 4.0 live mit bekannten und neuen Mitgliedern und Best-Practise-Partnern. Neben Weltmarktkonzernen wie Volkswagen und Siemens waren auch Hidden Champions wie Festo, Rittal und SEW-Eurodrive sowie Institutionen wie das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik BSI dabei. Großer Beliebtheit erfreuten sich neben den Managementsitzungen auch die Transferworkshops bei Unternehmen wie Deutz, Fischerwerke und Daimler Truck. Zum Abschluss geht es diesen Sommer virtuell zu Hagleitner Hygiene International mit Sitz Zell am See in Österreich.
Live in einer Fabrikhalle zu stehen lässt jedes Ingenieursherz höher schlagen. Ist der Funke auch virtuell auf die Zuhörer übergesprungen?
Stefan Aßmann: Ich war positiv überrascht, wie gut das funktioniert hat. Der Veranstalter Macils Management hat ja Profiteams für Interviews und Videos zu den gastgebenden Unternehmen geschickt, die vor Ort die Aufnahmen coronakonform und sehr professionell gemacht haben. Ich hatte das Gefühl, nah an den Maschinen, nah an den Menschen, nah an der Produktion zu sein. Darüber hinaus hatte man als Zuschauer nach der regulären »Sendezeit« die Möglichkeit, zum Beispiel den Fertigungs- oder Logistikleiter des jeweiligen Gastgebers individuell zu sprechen. Das war somit fast so gut wie die gewohnten Präsenzveranstaltungen.
Thomas Bauernhansl: Ich denke auch, dass der Funke übergesprungen ist. Es war ja nicht nur eine klassische Videokonferenz, sondern ein Kommunikationsformat ähnlich einer Fernsehsendung mit Live-Charakter: »Wetten, dass …? aus der Fabrik« mit entsprechendem Unterhaltungsfaktor. Es war handwerklich sehr gut gemacht und hat sich meines Erachtens ausgezahlt.
Digitalisierung der Produktion in Corona-Zeiten. Ändert sich da etwas? Die Geschwindigkeit, die Umsetzbarkeit?
Stefan Aßmann: Aus meiner Sicht hat sich durch die Corona-Pandemie das Bewusstsein für die Notwendigkeit und den Nutzen der Digitalisierung deutlich erhöht – sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wirtschaft. Das bedeutet aber leider nicht, dass auch immer die Umsetzungsgeschwindigkeit gestiegen ist. Ich beobachte, dass viele aktive Unternehmen nochmal einen Gang hoch geschalten haben, wohingegen die Unternehmen, die schon vor der Pandemie eher zögerlich waren, zum Teil noch weiter abgehängt werden. Kurzum: Die Schere zwischen den Frontrunnern und Nachzüglern hat sich vergrößert.
Thomas Bauernhansl: Ich glaube, wir haben einen gesellschaftlichen Digitalisierungsschub, von dem die Industrie profitieren wird. Die Unternehmen, die gut vorbereitet waren, konnten fast nahtlos an ihren Themen weiterarbeiten. Diejenigen, die nicht gut vorbereitet waren, haben an Geschwindigkeit verloren. Die Bedeutung von Infrastruktur rückt in den Vordergrund, und es gibt jetzt eine viel breitere Unterstützung für dieses Thema, weil alle sagen: Ja, wir brauchen breitbandigen und schellen Zugang zum Internet. In der Schule, im Privatleben, in der Industrie. Überall sind schnellere Netze notwendig. Vorher waren das vielleicht ein paar ausgewählte Industrieunternehmen, die das gefordert haben. Jetzt ist es die Gesellschaft.
Kommen wir zu den Effekten. Was bringt die Digitalisierung den produzierenden Unternehmen? Welche Anwendungen laufen, welche nicht?
Stefan Aßmann: Beispiele, dass Digitalisierung was bringt, gibt es viele. Das haben wir bereits in der ersten Lernreise gesehen, unter anderem bei Vorher-Nachher-Betrachtungen von zum Beispiel Durchlaufzeit, Beständen und Produktivität. Über andere Themen wie datengetriebene Geschäftsmodelle, Equipment- as-a-Service oder Pay-per-use wird zwar häufig geredet, aber noch eher wenig umgesetzt. Es ist aber auch nicht ungewöhnlich, dass zwischen den ersten Erfolgsberichten, etwa auf Industrie-4.0-Konferenzen, und der tatsächlichen Umsetzung in der industriellen Praxis einige Zeit vergeht. Von daher waren wir froh und dankbar, dass die Mitglieder der Lernreise konkrete eigene Anwendungsbeispiele gezeigt haben, auch wenn es zum Teil nur kleinere Pflänzchen waren.
Thomas Bauernhansl: Digitalisierung ist ja kein Selbstzweck. Am Ende möchte man ganz konkrete Geschäftskennzahlen verbessern: schneller liefern, mehr Umsatz machen, die Rendite steigern. Das hat dazu geführt, dass sich viele Unternehmen zunächst auf ihre eigene Wertschöpfung konzentriert haben, egal ob das jetzt Bestandsoptimierung oder Predictive Maintenance war. In einem zweiten Schritt – und da stehen zurzeit viele Unternehmen – hat man die gesamte Prozesskette (Ende-zu-Ende-Prozesse) ins Auge gefasst. Einige Firmen haben begonnen, ihre Kundenschnittstelle weiter zu digitalisieren. Andere, wenn auch nur wenige, insbesondere im B2B-Bereich, punkten mit innovativen Geschäftsmodellen wie Equipment-as-a-Service. Da stehen wir jedoch noch ganz am Anfang.
Damit Digitalisierung erfolgreich ist, muss zum einen die IT- und Prozesslandschaft permanent weiterentwickelt werden. Zum anderen müssen die Menschen mitgenommen werden. Wie gelingt das?
Stefan Aßmann: Im Kern geht es tatsächlich darum, die Menschen mitzunehmen. Dies gilt es immer wieder zu betonen. Aus meiner Sicht ist das bei beiden Lernreisen gelungen. Bei uns im Bosch-Konzern ist das allein schon durch den Gründervater in der Firmenkultur-DNA verankert. Die Frage »Welche Auswirkungen haben technische Veränderungen auf die Menschen?« steht immer am Anfang eines Transformationsprozesses. Wenn man die Mitglieder der Lernreise fragt, worauf sie sich fokussieren, dann wird erfreulicherweise sehr häufig Qualifizierung und Organisationsentwicklung genannt. Das sind Dauerbrennerthemen. Und auch bei den Mitarbeitenden wird die Bereitschaft, etwas zu tun, stets höher.
Thomas Bauernhansl: Während man am Anfang versucht hat, das, was vorher in Präsenz stattgefunden hat, digital abzubilden, ist es jetzt so, dass man didaktisch viel ausgefeiltere Konzepte etabliert hat, die viel spannender für die Menschen sind. Es gibt einen großen Run auf Webinare und neue Formate. Virtualisierung bedeutet ja auch – wenn es nicht gerade live ist – jederzeit Informationen modularisiert und passgenau abzurufen. Das führt dazu, dass Qualifizierungsangebote besser zum Alltag der Menschen passen und man gezielt diese Happen konsumieren kann. Auch das unterstützt die Digitale Transformation und gibt die Möglichkeit, die Menschen auf diese Reise mitzunehmen.
Was sagen Sie den Unternehmen, bei denen wegen der Corona-Pandemie die Bänder stillstehen? Bei denen spielt die Digitale Transformation wahrscheinlich aktuell keine so große Rolle.
Thomas Bauernhansl: Viele Unternehmen, die jetzt in der Krise sind, waren auch schon vor der Pandemie in der Krise. Ein Beispiel: Transformation in der Automobilindustrie, Stichwort Elektromobilität. Ein weiteres Beispiel: Einzelhandel, Stichwort geändertes Käuferverhalten durch digitale Angebote. Das hat sich jetzt nochmal verstärkt. Andererseits gibt es auch Unternehmen, die 2020 Rekordgewinne eingefahren haben. Unter anderem, weil sie ihre Kosten massiv gesenkt haben. Diese Unternehmen nutzen nun ihre finanziellen Spielräume und investieren massiver in die Zukunft als zuvor. Und sie nutzen auch freie Kapazitäten, um sinnvoll langfristige Transformationsprojekte voranzutreiben.
Stefan Aßmann: Die Corona-Pandemie ist ein extremer Beschleuniger – im positiven wie im negativen Sinne. Einige kämpfen um ihre Existenz, andere haben Hochkonjunktur. Der Verkauf von beispielsweise Haushalts- und Gartengeräten boomt. Eine neue Küche oder auch nur ein neuer Kühlschrank statt Mallorca lautet die Devise. Das hat mit Digitalisierung nichts zu tun. Das ist ein Sondereffekt. Es gibt viele Unternehmen, die das Ganze als Chance sehen und immer digitaler werden.
Werfen wir einen Blick in die USA und nach China. Während Deutschland oft alles zu 100 Prozent korrekt und konform machen möchte, legen andere einfach mal los. Ist das ein Fehler?
Thomas Bauernhansl: In Europa haben wir ethische Werte, die langfristig in vielen relevanten Feldern das größere Potenzial haben, sich positiv auf unsere Produkte auszuwirken. Ethics by Design wird sich, davon bin ich überzeugt, langfristig global durchsetzen. China sprintet, wir sind eher auf der Langstrecke unterwegs, aber wir werden in einigen Jahren sehen, welche gesellschaftlichen Modelle an Relevanz gewonnen haben. Dann wird man sehen, wer am Ende die Voraussetzungen geschaffen hat, die vielleicht auch nachhaltiger sind. In Bezug auf die USA: Das Land wird eine Zugmaschine für das globale Wachstum werden und gemeinsam mit China dem sehr exportorientierten Deutschland helfen, wieder mehr Schwung aufzunehmen.
Stefan Aßmann: Während in Europa und insbesondere in Deutschland die Dinge häufig bis ins Kleinste untersucht und perfektioniert werden, kommen andere Länder schneller in die Anwendung. In der Digitalisierung sind die, denen die sprichwörtlichen 80 Prozent zunächst reichen und die dafür deutlich schneller sind, am Ende meist auch erfolgreicher.
Digitalisierung und Klimaschutz. Ist die Digitale Transformation ein Hebel, um beispielsweise ressourcenschonender zu handeln oder CO2 einzusparen?
Stefan Aßmann: Auf jeden Fall. Digitalisierung ist ein Riesenhebel, um mit intelligenten technischen Lösungen den Klimawandel zu bewältigen. So lassen sich zum Beispiel durch Energie-Management-Systeme schon mit geringem Geldeinsatz und schneller Rückflussdauer erhebliche Energie- und somit CO2-Einsparungen erzielen. Hier ist Bosch ein Vorreiter und hat es bereits im Jahr 2020 geschafft, die weltweite Produktion CO2-neutral zu gestalten.
Thomas Bauernhansl: Im Rahmen des Energieeffizienzindex haben kürzlich über 70 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland gesagt, dass sie bis 2025 klimaneutral produzieren wollen. Ein Hebel, der massiv dazu beitragen kann, ist die Digitalisierung. Zunächst braucht es hier Transparenz: Wo verbrauche ich wie viel Energie und Material? Dazu müssen Daten erhoben werden, in der eigenen Fabrik, dann in der Supply Chain und schließlich im gesamten Lebenszyklus der Produkte, die man anbietet. Aufbauend auf der Datentransparenz geht es darum, die Sichtbarkeit zu erhöhen auf die Stellen, die den größten Einfluss auf die Umwelt und das Klima haben. Am Anfang muss man vielleicht noch Kompensationsmaßnahmen hinzunehmen, aber Schritt für Schritt kann man das herunterfahren und durch eigene neue, technologische Lösungen ersetzen. Die Digitalisierung wird in jeder dieser Lösungen eine große Rolle spielen.
Wird mit Blick auf zukünftige Lernreisen das Thema Biologische Transformation im industriellen Kontext auch eine Rolle spielen?
Thomas Bauernhansl: Ich denke schon. Mittelfristig werden die prozess- und stückgutorientierten Industrien zusammenrücken. Das Material entsteht dann dort, wo es gleich verarbeitet wird. Dies bringt Dezentralisierung und schafft neue Innovationsräume. Aus technologischer Perspektive heißt das, dass nicht nur Soft- und Hardware, sondern zusätzlich noch die Bioware in ein System integriert werden. Auf einer entsprechenden Lernreise werden wir dann ganz andere Firmen besuchen als heute, beispielsweise aus den Bereichen Pharma, Chemie, Lebensmittel und Landwirtschaft.
Bitte vervollständigen Sie folgenden Satz: Die zweite Lernreise Industrie 4.0 live war für mich …
Stefan Aßmann: … trotz Corona unerwartet gut, inspirierend und lehrreich.
Thomas Bauernhansl: … sehr gut. Das haben mir auch die Mitgliedsunternehmen bestätigt.
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