»Produktion und Service in Deutschland können nicht ohne Robotik«

Robotik ist eine essenzielle Technologie für den Wirtschaftsstandort Deutschland. (BIldquelle: Fraunhofer IPA)

Robotik ist eine zentrale Technologie für den Wirtschaftsstandort Deutschland. (Quelle: Fraunhofer IPA/Foto: Rainer Bez)

»Produktion und Service in Deutschland können nicht ohne Robotik«

Gestern stellten Mit-Herausgeber Dr. Werner Kraus und das Team der »International Federation of Robotics« (IFR) das neue Jahrbuch »World Robotics« vor. Sein Interview mit Dr. Susanne Bieller, »General Secretary« der IFR, gibt Einblicke in Marktzahlen der Industrie- und Servicerobotik, Besonderheiten einzelner Märkte und weltweite Trends.

Veröffentlicht am 25.09.2024

Lesezeit ca. 9 Minuten

Frau Bieller, die Eindrücke der gestrigen Pressekonferenz sind bei uns beiden noch ganz frisch. Zum Einstieg eine eher persönliche Frage: Welche Neuigkeit oder Entwicklung rund um die Robotik ist Ihnen aus der gestrigen Vorstellung der Marktdaten 2023 besonders in Erinnerung geblieben?

Susanne Bieller: Richtig, die Pressekonferenz habe ich natürlich noch gut im Gedächtnis. Vielleicht zum Einstieg eine erfreuliche und auch eher überraschende Nachricht: Von den fünf Ländern mit den meisten neu installierten Robotern – China, Japan, USA, Südkorea und Deutschland – weist einzig Deutschland Wachstumszahlen auf. Ebenfalls bemerkenswert sind die deutlich zweistelligen Wachstumszahlen einiger Länder, die 2023 herausragen. So ist die Zahl der neu installierten Industrieroboter in Indien um überraschende 59 Prozent gewachsen. Aber wir brauchen gar nicht so weit weg zu blicken, denn auch in Europa gibt es Märkte, die mich überrascht haben. Dazu gehört Großbritannien mit 50 Prozent Wachstum. Und auch Spanien ist mit 31 Prozent mehr Neuinstallationen vorne mit dabei.

Das sind ja tatsächlich beachtliche Zahlen. Haben Sie hierfür eine Erklärung?

Bieller: Ja, die Gründe sind teilweise länderspezifisch, teilweise hängen sie aber auch mit größeren ökonomischen Entwicklungen zusammen. Wir gehen beispielsweise davon aus, dass sich Indien zunehmend als zweites Standbein und Alternative zum günstigen Produktionsstandort China etablieren kann. Hier ist besonders die Automobilbranche ein Treiber. Was Großbritannien angeht, sehen wir, dass die Investitionen der Post-Brexit-Ära zu greifen beginnen. Es dauert einfach, bis hier alle nachgezogen haben und sich eine Branche konsolidiert hat. In Spanien war bereits 2022 ein starkes Wachstum zu beobachten, getragen von der Metallindustrie und der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie, was sich jetzt fortsetzt, da auch die Automobilindustrie erneut stark investiert.

Die wirtschaftliche Lage weltweit ist aktuell leider nicht optimal. Inwieweit betrifft das auch die ansonsten recht stabile Industrierobotik, die in der Vergangenheit mehrheitlich Wachstumszahlen aufwies?

Bieller: Was die weltweite Nutzung von Industrierobotern angeht, haben wir tatsächlich keine sehr großen Veränderungen beobachtet. Die größten Märkte sind die oben genannten alten Bekannten: China, Japan, USA, Südkorea und Deutschland. 2023 gab es das dritte Jahr in Folge mehr als 500 000 neu installierte Industrieroboter weltweit – zwar mit leichtem Rückgang zu den Vorjahren, aber wir sehen hier dennoch die genannte stabile und insgesamt positive Entwicklung. Hinzu kommen über 4 Millionen Roboter im Bestand. Spannend ist auch ein weiterer Punkt: In den letzten Jahren war die Elektro- und Elektronikfertigung die größte Branche hinsichtlich der Roboternutzung. 2023 war es seit längerem mal wieder die Automobilbranche, die hier vorne lag. Das könnte an Schwierigkeiten mit der Halbleiterproduktion liegen, für die wiederum China und die dortige Elektronikfertigung die Haupttreiber sind.

Also würden Sie sagen: Alles bestens?

Bieller: Das leider auch nicht. Wir gehen davon aus, dass 2023 noch von Nachholeffekten aus der Corona-Zeit profitieren konnte, also Investitionen getätigt wurden, die aufgeschoben wurden. Für 2024 erwarten wir lediglich einen Seitwärtstrend und auch 2025 gehen wir höchstens von einem minimalen Wachstum aus. Ab 2026 dürfte es dann aber wieder bergauf gehen. Und alles in allem bewegen wir uns bei den erwarteten Neuinstallationen weiterhin auf einem sehr hohen Niveau.

Dr. Susanne Bieller ist seit 2019 »General Secretary« der International Federation of Robotics (IFR). (Bildquelle: IFR)
Quelle: IFR

Zur Person

Dr. Susanne Bieller ist seit 2019 »General Secretary« der »International Federation of Robotics« (IFR). Nach ihrer Promotion in Chemie arbeitete sie als PR- und Kommunikationsmanagerin, Projektleiterin und Geschäftsführerin in verschiedenen Positionen bei der Europäischen Kommission, dem Maschinenbauverband VDMA und EUnited Robotics, dem europäischen Verband der Robotikindustrie.

Blicken wir einmal mehr auf die technischen Fakten. Welche neuen Entwicklungen, Anwendungen und weltweiten Trends sehen Sie hier aktuell als treibende Kräfte für die Industrierobotik?

Bieller: Da gibt es tatsächlich einige. Allen voran kommen immer Anwendungen rund um Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen in den kommerziellen Einsatz. Wir sehen diese Technologien zwar bereits seit einigen Jahren auf Messen, aber bis das in den Unternehmen ankommt, dauert es einfach. Jetzt scheint die Zeit reif dafür zu sein und KI verbessert zum Beispiel die Bildverarbeitung und das Greifen. Besonders in Japan fiel mir auf, dass die mobile Manipulation, also die Kombination aus einer mobilen Plattform und dem Industrieroboterarm, hohes Interesse erfährt. Deren Inbetriebnahme ist hinsichtlich der funktionalen Sicherheit jedoch gar nicht so einfach, weil aktuell keine Norm das System als Ganzes abdeckt, sondern beides getrennt bewertet und abgesichert werden muss.

Und wie steht es beispielsweise um die Cobots, die kleinen kompakten Roboterarme?

Bieller: Diese verbreiten sich auch weiter, richtig. Bisher haben sie oft das Bestücken oder Handhaben erledigt. 2023 waren sie vermehrt für das Schweißen im Einsatz und ganz neu dieses Jahr sehen wir weitere neue Applikationen wie das Auftragen von Kleber oder Lack. Dadurch, dass sie sich gut auch für kleine Stückzahlen eignen, profitiert zunehmend das Handwerk und der Mittelstand von Robotik, wo die klassische Industrierobotik bisher oft nicht gut gepasst hat. Und ebenfalls für kleine Losgrößen interessant: Es kommen mehr Ökosysteme im Kontext der Mensch-Roboter-Kollaboration auf den Markt. Das heißt, die Hardware kommt bereits fertig integriert und aus einer Hand beim Kunden an und die Applikation ist schneller einsatzbereit.

Nicht zuletzt geht der Trend hin zur Planung von Automatisierung in Simulationen. So haben Unternehmen weniger Risiken zu tragen: Eine Automatisierungslösung kann zunächst virtuell geprüft werden, Fehler lassen sich vor der Anschaffung ausbessern und auch KI-Methoden wie das maschinelle Lernen können hier trainiert werden, ohne dass eine reale Anlage blockiert ist.

Und dann wäre da noch der Trend rund um die Humanoiden…

… richtig, da ist momentan sehr viel Bewegung im Markt. Manche Firma erhält so viel Risikokapital, wie ein ganzes EU-Rahmenforschungsprogramm über mehrere Jahre umfasst. Wir bemerken hier auch ein verstärktes Interesse auf Kundenseite und Unternehmen möchten wissen, wie relevant diese Technologie ist. Was denken Sie?

Bieller: Tatsächlich erlebe ich in Gesprächen, dass das Thema Humanoide in Unternehmen hoch aufgehängt und genau beobachtet wird. In Europa sitzen wir meiner Meinung nach etwas »zwischen den Stühlen«: Sowohl in den USA als auch in China werden extreme Summen in die Technologie gesteckt. China möchte 2025 Humanoide in Serie fertigen… Dagegen mangelt es Europa an privaten wie öffentlichen Geldern, um mithalten zu können. Etwa zehn Unternehmen arbeiten in Europa an Humanoiden und sie fokussieren sich auf Forschung, Haushalt und Gesundheit. In China und den USA hingegen ist die Produktion das erste Einsatzziel. Bisher sind es aber überall Piloteinsätze.

Ich denke, die Frage wird sein, welche Unternehmen die Entwicklung Humanoider am stärksten vorantreiben können, um eine wirtschaftliche Nutzung zu ermöglichen. Sind es die Automobilhersteller als Pilotanwender? Dort ist meist mehr Geld vorhanden, aber die Anforderungen im Produktionsumfeld an die Technologie sind dort auch hoch. Im Haushaltsumfeld hingegen sind die Anforderungen weniger harsch und auch der Zeitfaktor ist weniger kritisch. Dafür muss der Preis stimmen, damit Erträge über Verkaufsmasse möglich werden, und die Sicherheit ist entscheidend, weil die Roboter mit Laien in Kontakt sind.

Mit seiner Interviewreihe »Rund um Robotik« gibt Dr. Werner Kraus, Forschungsbereichsleiter Automatisierung und Robotik, Einblicke in neueste Entwicklungen und Trends. (Bildquelle: Fraunhofer IPA)
Mit seiner Interviewreihe »Rund um Robotik« gibt Dr. Werner Kraus, Forschungsbereichsleiter Automatisierung und Robotik, Einblicke in neueste Entwicklungen und Trends. (Bildquelle: Fraunhofer IPA)

Neben Industrierobotern und Humanoiden sind auch die Serviceroboter im Kommen, also Roboter außerhalb von Produktionen. Mit meinem Autorenteam am Fraunhofer IPA stellen wir viele technische Entwicklungen für Märkte wie Logistik, Landwirtschaft oder das Gastgewerbe ausführlich dar. Bei Ihnen werden hierzu umfangreiche Marktstatistiken erstellt. Wie schätzen Sie die neuesten Verkaufszahlen ein?

Bieller: Die Servicerobotik ist gegenüber der Industrierobotik ein breiter und diversifizierter Markt. Ein klares Wachstum sehen wir in den gewerblich genutzten Servicerobotern, allen voran mobile Roboter für die Intralogistik mit 55 Prozent aller eingesetzten Systeme, Telepräsenz- und Küchenroboter für Kundenkontakt und Gastgewerbe auch der etablierte Markt der Melkroboter hat hohe Verkaufszahlen. Insgesamt ist die gewerbliche Servicerobotik um 30 Prozent gewachsen, die medizinische Robotik sogar um 36 Prozent.

Und sind auch neue Anwendungen im Kommen?

Bieller: Eine tatsächlich neue und immer mehr verbreitete Entwicklung sind Serviceroboter für das Be- und Entladen von LKW. Wie auch für die gesamte Robotik ist hier der Treiber der Arbeitskräftemangel. In Japan kommt hinzu, dass die LKW-Fahrer seit längerem keine Überstunden mehr machen dürfen. Entsprechend viele Lösungsansätze für diese Anwendung konnte ich dieses Jahr auf der iRex in Japan erleben. Unter Zeitdruck müssen die Robotersysteme in den LKW reinfahren, unpalettierte Objekte und besonders auch Rückläufer greifen und wieder aus dem LKW rausfahren.

Ebenfalls im Intralogistik-Umfeld steigt die Nachfrage nach Lösungen für den Transport draußen, also beispielsweise von Halle zu Halle. Das ist besonders herausfordernd, weil das Robotersystem auf Unterschiede in Licht, Temperatur und Böden reagieren können muss.

Ihre Organisation, die IFR, ist der Dachverband der nationalen Roboter- bzw. Automatisierungsverbände. Aufgrund Ihrer Funktion sind Sie stark vernetzt und mit vielen Stakeholdern aus aller Welt im Austausch. Welche Tendenzen nehmen Sie dabei wahr – was treibt die Märkte, was sind Hemmschuhe?

Bieller: Der größte Treiber ist ein alter Bekannter – der bereits genannte Arbeitskräftemangel erfordert schnelle Lösungen, insbesondere wenn wir in den stets wachsenden E-Commerce-Bereich schauen, aber auch in viele andere Branchen. Und auch die Hemmschuhe sind nicht neu: Globale und geopolitische Entwicklungen beeinflussen den bilateralen Handel negativ. Insbesondere in Europa sind die anstehenden Regulierungsmaßnahmen wie der »EU Cybersecurity Act« und der »AI Act« eine große Herausforderung.

Und wie schätzen Sie die aktuelle Rolle Deutschlands ein, sowohl aus Anbieter- als auch aus Anwendersicht?

Bieller: Deutschland schlägt sich in unseren Augen immer noch relativ gut, auch wenn die wirtschaftliche Lage hier natürlich ebenfalls schwierig ist. 2023 lag der Anteil der in Deutschland produzierten und weltweit verkauften Roboter bei sechs Prozent oder 35 000 Stück. Das sind zwei Prozent weniger als noch 2022. Zum Vergleich: Japan hat 38 Prozent Anteil an der weltweiten Herstellung von Robotern. Vermutlich wird es auch dieses Jahr eher einen leichten Rückgang in Deutschland geben. Insgesamt würde ich sagen: Deutschland muss kämpfen, um seine Marktposition zu halten. Und auch auf Anwendungsseite ist klar, dass Deutschland weder in der Fertigung noch im Servicesektor ohne Robotik auskommen wird. Eine zentrale Technologie sind hier meines Erachtens die Humanoiden. Nicht nur, weil wir hier einen Anbieter haben, sondern weil wir diese Lösungen in Anwendungen brauchen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Ihr Ansprechpartner

Werner Kraus

Forschungsbereichsleiter Automatisierung & Robotik
Telefon: +49 711 970-1049