Alte Industrieanlagen in cyberphysische Systeme verwandeln

Tobias Eusterwiemann mit SMD-Lötofen

Quelle: Fraunhofer IAO/Foto: Johannes Wimmer

Alte Industrieanlagen in cyberphysische Systeme verwandeln

Die Toolbox »Digitalisierungsbaukasten« zeigt, wie kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) schnell und kostengünstig in die Digitalisierung ihrer Maschinen und Arbeitsprozesse einsteigen können, um die eigene Produktion effizienter zu machen.

Veröffentlicht am 11.08.2022

Lesezeit ca. 5 Minuten

Die digitale Transformation in produzierenden Unternehmen hat auch im Rahmen der Covid-19-Pandemie deutlich an Fahrt gewonnen. Allerdings haben viele KMU immer noch das gleiche Problem: Was tun mit einer vorhandenen Maschine in einer zunehmend vernetzten Produktion?

Die Digitalisierung und Vernetzung einer solchen Anlage kann über zwei Wege erfolgen. Der klassische Weg ist die Ersatzbeschaffung einer smarten Maschine, die in die vernetzte Produktion eingebunden wird. Da der Maschinenpark deutscher Unternehmen ein durchschnittliches Alter von 15 bis 20 Jahren hat, ist das oftmals keine Option, da durch lange Restlaufzeiten die notwendigen Investitionen für neue Maschinen zu hoch wären. Der unkonventionelle Weg des Smart Retrofits von Maschinen – das bedeutet bestehende Fertigungsanlagen mit eingebetteten Systemen und Sensorik auszustatten, um sie digital anzubinden – kann hier Abhilfe schaffen. Mit geringen Investitionen kann eine noch vollständig intakte Anlage so zu einem cyberphysischen System weiterentwickelt werden.

Toolbox Digitalisierungsbaukasten

Um die Potenziale des Smart Retrofit vollständig auszunutzen, muss ein systematischer Ansatz gewählt werden. Die Toolbox Digitalisierungsbaukasten orientiert sich am klassischen Dreiklang aus Problemidentifikation, Lösungsfindung und technischer Umsetzung.

Zur Definition des Problems wird die 5-Why-Methode, kurz 5W, aus dem Toyota-Produktionssystem verwendet. Ziel dieser Anwendung ist es, solange nach einer Ursache eines Defekts oder Problems zu fragen, bis diese bestimmt ist.

Schaubild 5-Times-How-Methode
Die-5-Times-How-Methode. (Quelle: Fraunhofer IPA)

Die 5-Times-How-Methode stellt den Sprung zur technischen Umsetzung der Lösung dar. Dazu wird die benötigte Funktion (Ergebnis von 5W) in mehrere Lösungsbausteine zur Realisierung aufgeteilt. Dadurch erleichtert man die Wiederverwendung der Komponenten für weitere Problemstellungen.

Nach Aufteilung der benötigten Funktion in mehrere Lösungsbausteine werden Anforderungen an die technische Realisierung gesammelt und in eine Lösungsskizze überführt. Um die Lösung wirtschaftlich betreiben zu können, ist die Prüfung auf den Gebrauchsnutzen ein wichtiger Bestandteil dieser Methode. Digitalisierungslösungen müssen nicht nur eine Problemstellung lösen, sie müssen ebenfalls den User und dessen Arbeitsaufgabe zu einer wirtschaftlichen Lösung integrieren. Nach der Methodik für die konzeptionelle Entwicklung des Anwendungsfalls muss nun die technische und organisatorische Umsetzung im Rahmen von technischen Elementen sowie der Konzeption der notwendigen IT-Architektur betrachtet werden.

Um eine Maschine smart aufzurüsten, muss, bezogen auf die technischen Elemente, zunächst die Frage nach messbaren Größen gestellt werden. Diese Messgrößen dürfen nicht nach dem Gießkannenprinzip ermittelt werden, sondern zielgerichtet auf die Probleme der Ursachenanalyse der 5W-Methode. Die hierdurch ermittelten Bedarfsdaten zur Analyse sind sensorisch abzubilden.

Für die Datenerfassung und -übertragung eignet sich ein Edge Device mit Gateway-Funktion und intelligenter Steuerung für höhere Ansprüche. Wichtig zu erwähnen ist auch die Skalierbarkeit des Systems. Sollen weitere Anwendungsfälle im Nachgang abgebildet werden, sollte das System jederzeit ohne große Mehraufwände und Kosten erweiterbar sein.

Die Grundvoraussetzung zum Datentransfer stellt eine Netzwerktopologie mit angepasstem Sicherheitskonzept dar. Dabei sind das Edge Device, das Manufacturing-Execution-System (MES) und das Enterprise-Resource-Planning-System (ERP-System) oder eine Internet-of-Things-Platform die Kernelemente. Das Edge Device übernimmt alle Tätigkeiten rund um die Maschine. Es erhält Aufträge vom MES und steuert die Maschine über eine integrierte speicherprogrammierbare Steuerung (SPS). Gleichzeitig erhält das Device die Daten aus der neu integrierten Sensorik und steuert aufgrund der dadurch gewonnenen Erkenntnisse eine entsprechende Aktorik an.

Anwendung auf einen SMD-Lötofen

Beim SMD-Lötofen muss eine konstante Temperatur innerhalb des Ofens eingehalten werden. Die 5W-Analyse hat ergeben, dass die Temperatur neben dem Heizelement maßgeblich durch einen Lüfter im Gehäuse reguliert wird. Ziel des Anwendungsfalls muss also sein, die Störung, etwa der Ausfall oder die Vibration des Lüfters, zu detektieren und eine Eskalation des Fehlers zu starten.

Für den vorliegenden Anwendungsfall konnten die Expertinnen und Experten vom Fraunhofer IPA mit Hilfe der 5-Times-How-Methode drei Lösungsbausteine separieren:

  • Detektion einer Störung des Lüfters
  • Eskalation des Fehlers
  • Zurücksetzung des Fehlers nach Behebung des Problems
Smart-Retrofit-Lösung SMD-Lötofen
Physischer Aufbau der Smart-Retrofit-Lösung SMD-Lötofen. (Quelle: Fraunhofer IPA)

Die Analyse des Gebrauchsnutzen der Lösungsbausteine hat ergeben, dass das MES mit der isolierten Information des Sensorwerts keine weiteren sinnvollen Aktionen triggern kann. Die Benachrichtigung wird daher mit Information über Maschinenname, Zeitstempel und Si-Einheit des gemessenen Wertes erweitert.

Mithilfe der Basistopologie und der Lösungsskizze kann nun der Aufbau realisiert werden. Im gegebenen Anwendungsfall wird ein Auftrag mit Hilfe des Einlesens eines Data-Matrix-Codes gestartet. Das Edge Device gibt den Steuerungsbefehl an die Maschine und startet den Lüfter. Während der Auftrag bearbeitet wird, sammelt der Vibrationssensor Daten, die ausgelesen werden, um eine Störung des Lüfters zu detektieren. Wird ein Warn-Schwellwert überschritten, gibt das System automatisch über einen Node-Red-Workflow ein Ticket im MES auf, um die Instandhaltung über die Fehlermeldung zu informieren. Ebenso kann über ein Ticket im ERP-System automatisiert das notwendige Ersatzteil beschafft werden – in diesem Fall ein Lüfter. Die Software des Edge-Device ist dabei so angepasst, dass die Fehlermeldung auch automatisiert zurückgenommen werden kann.

Das Whitepaper »Digitalisierungsbaukasten – Wie aus analogen Industrieanlagen in wenigen Schritten cyberphysische Systeme werden« steht kostenlos zum Download zur Verfügung.

Ihr Ansprechpartner

M.Sc. Tobias Eusterwiemann

Mitarbeiter der Gruppe Umsetzungsmethoden für die digitale Produktion
Telefon +49 711 970-1581